Er setzte sich unter dem tosenden Applaus des Publikums auf den bereitgestellten Lehnstuhl. Unsicher fühlte er sich - und verärgert war er. Aber er wollte versuchen, sich dies nicht anmerken zu lassen - vorerst. Als der Beifall verklungen war, sprach er deshalb ruhig in die Kamera, denn etwas musste er sagen: "Ich bin Tom. Und ich bin unschuldig!"
Die Moderatorin verdrehte die Augen, als hätte sie eben diese Bemerkung erwartet. Dann - beim Blick in die Linse der Kamera 2 - setzte sie wieder ein Lächeln auf, das wohl zu ihrem Designerkostüm passen sollte. "Tja Tom", zwitscherte sie dann. "Dass das so nicht ganz stimmt, zeigt der folgende Filmbeitrag. Sehen wir uns doch einmal eben an, warum Du hier bist."
Das Publikum applaudierte. Auf seinem Monitor, der vor seinem Stuhl auf dem Boden stand, konnte Tom verfolgen, was auch auf den übergroßen Studioleinwänden gezeigt wurde. Er ahnte, was ihn erwarten würde. Eine Musik wie in einer billigen Kriminalserie begleitete den "Filmbeitrag". Die ihm allzu bekannte Filiale einer großen Kaufhauskette wurde auf seinem Monitor sichtbar. Schnell wurde ein größerer Bildausschnitt gewählt. "Die Filiale der Kaufhauskette KhK in I", sprach eine männliche Stimme in einem Tonfall, der an die Gruselgeschichten am Lagerfeuer der Zeltlager seiner Kindheit erinnerte. "Wie ein ganz normaler Kunde betritt Tom an einem Mittwoch nachmittag die Schreibwarenabteilung." Gezeigt wurde nun eine Kamerafahrt durch die Schreibwarenabteilung von KhK, dann folgte ein Umschalten auf die Aufnahmen der Überwachungskamera von jenem Tag. "Frau F. ahnte nichts, als sie die Vitrine der edlen Füllfederhalter der Marke Monssacer öffnete, um ihrer Kundin ein Exemplar der Reihe Elegance-X zu zeigen", fuhr die Stimme fort und Tom meinte einen Anstieg der Dramatik in ihr zu spüren. "Doch sehen Sie wie Tom diesen Moment nutzt, um einen der wertvollen Schreibgeräte zu stehlen. Ein Moment, in dem Frau F ihm den Rücken zukehrte und er sich für unbeobachtet hielt. Er hatte nur nicht mit der Überwachungskamera gerechnet." Der Film zeigte nun, wie Tom wegging und kurz darauf von einem Kaufhausdetektiv angehalten wurde. Darauf folgte eine Ansicht des Gerichtsgebäudes, zunächst von außen - danach ein Blick in den leeren Sitzungssaal 3. "Der Täter Tom wurde gleich darauf überführt und zwei Monate später vom Amtsgericht I. zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Doch eine Möglichkeit ließ ihm der Richter noch: durch Teilnahme an dieser Sendung die Strafe zu verbüßen. Und nun ist er hier."
Der Film endete. Die Zuschauer spendeten wieder Beifall. "Da das nun feststeht", die Moderatorin blickte ihn besserwisserisch an und lächelte dann - nach einer Drehung des Kopfes - das Publikum an. "erzähle uns doch einmal, Tom, was dich in diesem Moment bewegt hat, diesen Füller zu klauen."
Tom sah sie unwillig an, wollte protestieren. Sein Gefühlsleben im Fernsehen offenzulegen! Überhaupt sich daran erinnern zu müssen - noch einmal! Aber da wurden ihm doch wieder die eindringlichen Worte bewusst, die ihm vor der Sendung eingetrichtert wurden: Harte Sanktionen könnten die Folge sein, wenn er nicht mitmachte. Totale Videoüberwachung seiner Wohnung, wobei die Bilder ins Internet gestellt würden und abends um 20:15 Uhr dann das "Beste" des vorangegangenen Tages zusammen mit den "Best-Ofs" von anderen Leidensgenossen im Fernsehen gesendet würde. Ihn schauderte.
"Tom?", fragte die Moderatorin Monika. Tom schreckte auf. "Nun ... ähm, ich meine, ich ..... hatte soetwas gar nicht vor, als ich den KhK betreten habe. Nur ein Geschenk für meine Frau wollte ich kaufen. Nur ein Geschenk."
"Ey!", rief da jemand aus dem Publikum. "Schonmal daran gedacht, dass der Supermarkt da Dir den Füller nicht schenken wollte, häh?"
Monika gestikulierte heimlich aber überaus deutlich. Er sollte wohl weiter reden. "Was hat Dich denn dann doch dazu gebracht?", fragte sie dann. "Was hast du dir dabei gedacht?"
"Also.... als .... als ich dann gesehen habe, wie der Füller da gelegen hat.... Und ich war doch knapp bei Kasse, Mensch! Und die Trulla hat noch nicht einmal hingesehen! Da habe ich halt gedacht: Leichtes Spiel." Er merkte, wie er langsam in einen Erzählfluss kam. Irgendwie war ihm der Gedanke unbehaglich. Er stockte.
"Du warst also knapp bei Kasse, Tom?", fragte die Moderatorin mit dem Tonfall einer Kindergärtnerin, die zwei kleine Jungs fragt, warum sie denn die Puppenstube mit Bauklötzen beworfen haben. "Willst du dem Publikum vielleicht sagen, warum?"
Tom blickte betreten auf den Boden. "Ich bin arbeitslos...." Monika wirkte einen Moment ebenfalls mitgenommen. Dann bemerkte Tom ihre Augen und konnte den darauffolgenden Triumpfschlag bereits erahnen: "Betriebsbedingte Kündigungen?", fragte sie, als würde sie es ernsthaft mitleidsvoll meinen. "'Außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund'", zitierte Tom tonlos. "Ich habe gestohlen."
Ein Rauschen ging durch das Auditorium.
"Und hier die Frau...", kündigte die Moderatorin Monika an, um mit schlecht unterdrücktem Sarkasmus fortzufahren: "... für die Tom dies getan hat: Erika!"
Tom schreckte hoch. Darauf hatte man ihn nicht vorbereitet.
Es ertönte wieder diese Fanfare der Sendung - "Monikas Mittag - Real Crime Talk". Toms Ehefrau Erika trat selbstbewusst durch die rauchschwabenumnebelte, rosafarbene Tür. "Ich bin Erika", rief sie wütend. "Wie konntest du mir das antun? Ich halte das nicht mehr aus! Ich lasse mich scheiden!" Sie setzte sich.
Die Moderatorin blickte zufrieden in die Kamera. "Was Erika ihrem Tom zu sagen hat, sehen Sie gleich - nach der Werbung", säuselte sie in die Kamera. "Bleiben Sie dran."
Monika wandte sich an Tom: "Ich habe Sie falsch eingeschätzt", lobte sie. "Eine so gute Kooperation hatte ich gar nicht erwartet. Hoffentlich hat das nicht nur mit der angedrohten Beugehaft zu tun...."
"Sie meinen die Videoüberwachung in meiner Wohnung oder gar in einem abgeschotteten Haus mit neun anderen wie mir?", Toms Gesicht verlor an Farbe. "Wie sie es mir für den Fall des Schweigens angedroht hatten? Das würde ich meiner Frau nicht antun wollen."
"Spar dir das", unterbrach ihn Erika. "Vielleicht hättest du dir das etwas früher überlegen sollen!"
"Heben Sie sich den Streit bitte für die Sendezeit auf", meinte da die Moderatorin Monika etwas schnippisch. "Die Zuschauer wollen das mitverfolgen!"
Die Musik fing wieder an zu spielen. Es ging weiter.
Tom hörte die nun eingespielte MAZ und die Ansage: "Wenn auch Sie einen Kriminellen kennen, nehmen Sie sich ein Herz und zeigen ihn an! Sofern er dann gerichtlich zur Ehrenstrafe verurteilt wird, sehen Sie ihn vielleicht auch bald hier - beim Real Crime Talk." Dass die Gerichtsverhandlung auf dem Konkurrenzkanal gesendet wurden, verschwieg des Sprechers Höflichkeit.
Fünfzehn Minuten später hatte ihm seine Frau nichts mehr zu sagen. Er ihr auch nicht. Viele Stühle waren dazu gestellt worden, und viele Leute hatten sich darauf gesetzt. Frau F. (die Kaufhausangestellte) - die Tom wegen seines Kommentars beschimpfte -, der Kaufhausdetektiv D. - Anekdoten aus seinem Berufsleben zum Besten gebend - und ein zwanghafter Kleptomane, Zacharias - stolz, seine Krankheit überwunden zu haben.
Gerade rief die Moderatorin Monika einen Psychologen aus dem Publikum, einen gewissen Herrn P., auf: "Wie ist das nun mit Tom - leidet er unter Kleptomanie?" - "Wissen Sie, so genau ist das ohne eingehendere Untersuchung nicht zu sagen", fing Herr P. an. "Aber Tom scheint sich einzubilden, die Probleme in seinem sozialen Umfeld, zum Beispiel mit seiner Frau - die sich hier ja deutlich gezeigt haben -, mit gestohlenen Gegenständen bewältigen zu können. Deshalb ...."
Tom wollte ihn unterbrechen, protestieren - hatte doch dieser Streit erst nach diesen Ereignissen begonnen! Aber als er aufstehen und laut in sein ausgeschaltetes Mikrophon widersprechen wollte, hielt es auch Zacharias nicht mehr auf seinem Sitz. Doch er wollte nicht etwa unter Protest (oder gar Zwang) anmerken, dass sich ein waschechter Zwangsdieb durch andere Charakteristika auszeichnet, sondern er kramte in Windeseile einen Zettel hervor und hielt seinen eingeschalteten Walkman vor das Mikrophon. Es erklang ein Lied der Rolling Stones in der Instrumentalversion: "Angie".
Herr P. beendete vor Schreck und Verwunderung den Satz nicht. Moderatorin Monika hielt inne und ging im Gedanken das Drehbuch der Sendung durch.
Nun fing Zacharias an, die Stimme zu erheben und zu singen: "Monika, ..... oh Moooooonika! Du ahnst nicht, wie sehr....." Sein Mikrophon wurde abgeschaltet. Monika erkannte langsam, dass das wohl nicht geplant war. Der ungebetene Sänger ließ sich nicht beirren und lief zu Hochform auf. Unplugged und ohne (hörbare) Hintergrundmusik sang er über seine unsterbliche Liebe zu ihr, drückte seine Affektionen zu ihrem langen blonden Haar aus und beteuerte, dass er diese Gefühle schon gehabt habe, als er im Sandkasten spielte und von der Grundschule mit ihr nach Hause ging, zuhause in "Mettingen, oh Monika!"
Tom, der von seinem Platz den Text des Liedes genau mitbekam, schreckte auf. Stammte doch auch er aus Mettingen. "Monika, ..... Monika, ...... Monika", dachte er laut. Erika blickte ihn vorwurfsvoll an, aber sprach kein Wort, während Zacharias von Sicherheitskräften - noch immer singend - aus dem Raum geschleift wurde. "Natürlich!", fiel es ihm da auf einmal ein. "Monika Maßmann! Dass ich Dich nicht sofort erkannt habe!" Erika stemmte die Fäuste in ihre Hüfte. "Würdest Du mir bitte erklären...", sie hielt sich schnell die Hand vor den Mund. Schweigen hatte sie sich verordnet gehabt.
Monika drehte sich irritiert um - leicht taumelnd. Was sollte denn nun noch kommen? "Du saßt neben mir in der fünften Klasse", rief Tom. "Hast immer von mir abgeschrieben. Obwohl ich selbst die größten Fehler gemacht habe." Erika blickte ihn verwundert an. Sollte sie doch noch irgendwie aus dieser peinlichen Lage herauskommen?
Tom fiel auf, dass sein Mikrophon noch immer nicht abgeschaltet war. Zur Kamera gewandt, fuhr er fort: "In der neun nahm sie mir einmal meine Hausaufgaben weg und gab sie als ihre ab. Dann verpetzte sie mich, weil ich keine gemacht hatte. Sie bekam eine Sechs, weil ihr der Lehrer nicht glaubte, dass sie Soldat werden wollte. Ich einen Verweis, wegen nicht gemachter Hausaufgaben. Musste dann nochmal welche schreiben und bekam eine drei."
Moderatorin Monika wurde bleich. Ihr Assistent Arnold im Publikum grinste heimlich und forderte Tom gestikulierend auf, weiterzureden.
"Und beim Theaterspiel in der acht...."
"Hör auf!", rief Monika, die sich auf einmal wieder fasste. Ihr Moderatorinnen-Makeup war verschmiert. Sie war völlig außer Fassung und hatte das Drehbuch vollkommen vergessen. "Hau ab und nimm sie doch mit, Deine...." - "Vorsicht!", rief Tom. "Lass uns gehen", lächelte ihn Erika da an. Sie standen auf. Tom blickte kurz nach links und nach rechts, als wollte er eine Straße überqueren. Dann nahm er Erika bei der Hand und ging mit ihr zu der Tür, trat kurz gegen den weißen Kasten daneben, so dass dieser wieder ein paar Nebelschwaden hinausblies und verließ das Studio.
© 2000 by Dr. iur. Peter Felix Schuster, kommerzielle Nutzung untersagt. Veröffentlichung und Verbreitung vorbehalten. Dieser Text darf nur mit Nennung des Autors Peter Schuster und nach R?cksprache mit ihm - unentgeltlich und unverändert - vertrieben werden. Kommentare höchst erwünscht per E-Mail. HTML-Version © 2000-2008 by Peter Schuster. Originaladresse dieser Seite im Netz: www.mondratte.de/vollstre.htm.