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Gespensterfurcht

Sachmängelgewährleistung beim Grundstückskauf

I. corpus delicti

Verena legte den Telefonhörer wieder auf. Sie setze sich in den nächsten Sessel und konnte es nicht fassen.

Eine Stunde später hatte sie aufgehört zu weinen und wischte die letzte Träne aus den Augenwinkeln. Dann nahm sie den Hörer wieder ab. "Hol mich doch bitte ab", sagte sie. "Ich möchte es selbst sehen." Klack. Der Telefonhörer lag wieder auf der Gabel. Verena blickte aus dem Fenster. Die Sonne ging unter, was Verena nicht sehen konnte. Der Himmel war bewökt, und es regnete. Die Lichter der vorbeifahrenden Automobile erzeugten Lichtkegel an den prasselnden Regentropfen. Fußgänger hatten ihre Schirme aufgespannt oder hielten ihre Hüte und Mützen fest, als sie eifrig vorbeigingen.

Dann fuhr endlich, zehn Minuten später, Elisabeths schwarzer Citroën vor. Elisabeth hupte. Verena warf ihren Mantel über, löschte das Licht, verschloss die Tür. Während sie ihren Mantel zuknöpfte, eilte sie die Haustreppe hinab.

"Geht es dir gut?", fragte Elisabeth ihre "Schwägerin". Verena nickte stumm und nahm neben ihr Platz. Es schien, als wollte der Himmel gegen die Fahrt protestieren. Elisabeth wischte sich eine trockene Träne aus den Augenwinkeln, als sie vor der hohen, weiten Mauer hielt. Verena nahm ihre Schlüssel aus der Manteltasche und blickte um sich. Die Lichter der Stadt waren hier vom Berg aus zu sehen. Sie öffnete das Schloss im hohen eisernen Portal. Das Tor ließ sich leicht ohne Quietschen öffnen. - "guter, penibler Rüdiger!", dachte Verena bei sich, als sie die Schwelle in "sein Reich" passiert hatte und einen Moment innehielt. Elisabeth stieß sie von hinten an. Sie blickte auf den Weg, der vor ihnen lag.

Das Grundstück umfasste - von der Mauer umgeben - einen der Hügel außerhalb der Stadt. Der Weg, der den Hügel hochführte, war matschig und bepfützt vom Regen; sein Ende entzog sich der Sichtbarkeit. Hätte es nicht angefagen zu gewittern, wäre auch das Haus an der Spitze nicht sichtbar geworden. Über die Wiesen, die die Anhöhe überzogen, waren Büsche und entlaubte Bäume verstreut, die sich im Winde vor der blau-schwarzen Kulisse der Wolken wogen. Hin und wieder schienen elektrische Lichter zwischen den laublosen Bäumen durch. Je näher sie der Spitze kamen, umso mehr stellte sich die Quelle als eine Jahrhunderte alte Villa heraus. Verena erschauderte, als sie das Haus sah; Elisabeth seufzte. Schatten zeugten von Aktivitäten im Gebäude.

Als Verena die Tür aufschloss, blickte sie in das Gesicht eines Polizisten, der das Haus verlassen wollte.

"Frau von Hohenholzheim?", fragte der, als er sich nach einer Schrecksekunde wieder gefangen hatte. Verwirrung war seiner Stimme immer noch zu entnehmen.

Verena blickte stumm zu Elisabeth herüber und nickte ihr zu.

"Nein, das bin ich!", Elisabeth baute sich vor ihm auf. Ihre Schuhe hatten keine allzu hohen Absätze, aber dennoch ausreichend, um ihm Aug in Aug gegenüberstehen zu können.

"Ah!", meinte der Mann im ockerfarbenen Hemd dann. "Der Herr Hauptkommissar erwartet Sie bereits." Er wandte sich und ging. Ihm reichte es. Ihr Bruder hatte schon so einen seltsamen Blick aus seinen Augenhöhlen getragen - nun, wer möchte es ihm verdenken -, aber das reichte für einen Tag. Er schämte sich und rückte seine tarnfarbene Krawatte wieder zurecht, während er ging.

Die beiden Frauen übertraten die Schwelle und sahen grün. Und viele Rücken. Rücken in grünen Jacken, die gehockt auf dem Boden nach Dingen suchten, vereinzelt etwas aufnahmen und in Tütchen packten. Insgesamt ein geschäftiger Eindruck, jeder PR-Berater hätte nur erfreut sein können und im Gedanken bereits die Rechnung für die Fotografien ausgearbeitet. Blitze durchzuckten die Vorhalle. Eine weitere Fotografie oder das Unwetter? Donner folgte. Dann ein Blitzlicht. Ihnen fiel ein weiterer Rücken auf, kein grüner. Der Herr im dunkelbrauen, waldbodenfarbig-gemusterten Jackett hatte eine Halbglatze und ansonsten blondbraunes, leicht ergrautes Haar. Er schien zu versuchen, alle grünen Rücken gleichzeitig im Auge zu behalten und machte sich Notizen. Als sich Blicke in seinem Nacken festgebissen hatten, griff er sich an denselben und drehte sich in ihre Richtung. Er trug auch einen Schnäuzer.

"Frau von Hohenholzheim?", fragte er und ließ keinen Zweifel daran offen, dass er nicht wusste, mit welcher der jungen Damen er eigentlich sprach. Er ging einen Schritt auf sie zu, so dass der Blick frei wurde auf den Mann, der am Boden lag. Nicht grün. Auch nicht geschäftig. Elisabeth erkannte ihn zuerst. Aber darauf war sie vorbereitet. Sie würde nicht, nein sie würde ganz bestimmt nicht.... Auch Verena konnte die Tränen kaum unterdrücken. Sie sah sein silbergraues Hemd, während sie näherkam, unter dem marineblauen Jacket hervorsehen. Rüdiger von Hohenholzheim war tot. Nicht, dass die beiden Frauen nicht darauf vorbereitet gewesen wären, sie waren von der Polizei telefonisch informiert worden. Rüdiger selbst hatte sie herbeigerufen, bevor.... Was danach passiert war, wussten Verena und Elisabeth nicht.

"Ja, ich bin die Schwester", antwortete Elisabeth endlich. "Sie hatten mit mir gesprochen." Sie streckte nur zögernd ihre Hand aus. Zu verwirrt war sie noch von dem, was ihr berichtet worden war. Es wurde ihr nun schlagartig wieder bewusst.

"Krewicz ist mein Name", stellte sich der Hauptkommissar noch einmal -nunmehr nicht-telefonisch- vor. "Heiner Krewicz." Er war sichtlich um Pietät bemüht. Weder sah er teilnahmslos aus, noch blickte er mitleidsvoll, als er Elisabeths Hand entgegennahm und kurz drückte. Eine Art wärmende Kälte ging von ihm aus. Kein direkter Blick in die Augen, jedoch auch kein verkrampftes Wegsehen.

"Verena Birkhamm", stellte sich nunmehr auch ihre Begleiterin vor. Er schüttelte mit einem Kopfnicken auch ihre Hand. Verena überlegte, ob es eine lange Berufserfahrung voraussetzte, in solch einer Situation nicht unwillkürlich "sehr erfreut" zu sagen.

Anders setzte Krewicz fort: "Ich bedauere, Ihnen noch nicht sehr viel mehr über die Todesursache mitteilen zu können als bei unserem Telefonat. Dem Gerichtsmediziner ist es ein Rätsel, aber Feuer- und Stichwaffen konnte er ausschließen. Für weitere Untersuchungen müssten wir die Leiche Ihres Bruders leider mitnehmen. Wären Sie einverstanden?"

Elisabeth überlegte kurz, was sie als gute Schwester tun müsste. Was Rüdiger selbst wohl gewollt hätte. Dann nickte sie nur. "Bitte benachrichtigen Sie mich, sobald Sie etwas Neues wissen!", bat sie dann Herrn Krewicz. "Ich würde ihn nur gerne noch einmal sehen."

Hauptkommissar Krewicz nickte. "Ich hoffe jedoch auf Ihr Verständnis, dass wir Sie nicht unbeaufsichtig lassen können", seufzte er und blickte entschuldigend. "Sie verstehen, angesichts der rätselhaften Umstände des Todes."

Elisabeth nickte wieder. Sie hatte damit gerechnet. Rüdigers Gesicht war bemerkenswert schnell recht bleich geworden. Vor ihm kniend, blickte sie tief in seine geschlossenen Augen und merkte, wie sich die ihren langsam mit Tränen füllten.

Verena stand hinter ihr. Elisabeth spürte ihre Hand auf ihrer Schulter und vernahm ihre Stimme. "Was sollen wir denn jetzt nun tun?", fragte Elisabeth ohne Klang in der Stimme.

Verena überlegte etwas, ließ ihren Blick durch die Vorhalle des Gebäudes schweifen. Ein mächtiger Kronleuchter an der Decke, keine Kerze war entzündet. Die Stufen der Treppe waren von einem roten Teppichstoff überzogen, wahrscheinlich sehr edel, dennoch abgetreten. Diese Erinnerungen. Ihre Miene wurde finster, und sie antwortete entschlossen: "Wir klagen."


II. advocatus diaboli

Er sah aus dem Fenster. Die Sonne ging über der Kulisse der Innenstadt auf und tauchten den Discountmarkt auf der anderen Straßenseite in ein majestätisches Licht. Die wenig mächtigen jungen Eichen -waren es welche? er glaubte dies- trugen bunte Blätter. Der Regen des Vortages war vorbeigegangen. Er hatte einschlafen können und war an diesem Vormittag sogar ausgesprochen fit. Herbst. Wie schön. Das würde ihn wieder etwas motiviere. Er würde an seiner Dissertation weiter schreiben können. Alle angefallenen Streitsachen waren bearbeitet, die Schriftsätze unterwegs. Antwort würde wohl erst in einigen Tagen zu erwarten sein. Heutige Mandanten wollten die Kollegen betreuen. Perfekt.

Er nahm den Literaturordner aus dem Regal. Ein schönes Etikett hatte dieser. Alles musste stimmig sein in seinem Büro. So war auch der Ordner mit einem Etikettenvordruck der Kanzlei versehen. Das war eigentlich nicht ganz korrekt, denn seine Dissertation war Privatsache. Aber warum sollte nicht auch darauf "Bauer Dr. Fischer und Partner" stehen? Sein Büro war nicht groß. Bevor er eingestellt wurde, hatten die Partner ein größeres Büro geteilt. Aber es war etwas besonderes, sein Büro, fand er. Ordentlich, fast bibliothekarisch waren die Bücher geordnet. Alle Rücken seiner Aktenordner mit Computer entworfen und gedruckt. Dies hatte nicht zuletzt den Vorteil, dass seine Akten von der Dissertation unter den Fotokopien höchstgerichtlicher Entscheidungen nicht auffielen.

Die Urteilskopie in seiner Hand war nicht höchtsrichtlerlich, sondern stammte von einem Richter des entgegengesetzten Endes der Instanzenkette. Ein westfälisches Amtsgericht hatte einen Sachverhalt entschieden, der ihn sehr amüsierte. Grinsend las er das Urteil erneut durch, kein gekürztes aus einer juristischen Zeitschrift oder elektronischen Suchdiensten, sondern eine ausführliche Ausfertigung, die er sich unter Angabe des Aktenzeichens von dem Richter am Amtsgericht hatte schicken lassen. "Im Namen des Volkes!", er überlegte. War das nicht eine etwas altmodische Formulierung? Heute würde man wohl passender schreiben: "Im Namen der Einwohner der Stadt S, des Kreises K, des Landes L und der Bundesrepublik Deutschland ergeht folgendes Urteil: ..." Oder: "Im Namen des Staates!"

Es klopfte an der hölzernen Bürotür. Folker warf ihr einen grimmigen Blick zu. Noch heute morgen hatte er, als er sie durchschrittten hatte, mit ihr vereinbart, dass sie dies heute bleiben lassen würde. "Herein!", rief er ihr, der Tür zu. Ihre Klinke sank herab und sie öffnete sich. Hinein guckte das Gesicht seines Kollegen. Thomas, ein Mann, etwa in seinem Alter. Hatte hier ein Jahr vor ihm angefangen. "Hi Folker!", meinte er mit dem gewohnten Unterton in seiner Stimme. "Ich weiß, dass du heute an Deiner Dissertation arbeiten wolltest. Aber diese Mandantin gehört wohl in dein .... Ressort." Thomas kicherte etwas. Folker blickte eher irritiert. Er hatte sich auf kein Fachgebiet spezialisiert. "Was für....", wollte er beginnen, doch Thomas unterbrach: "Das ist schwer zu erklären, höre sie einfach an."

Eine Frau von gepflegtem Aussehen und mit dunkelbraunen, leicht gelockten Haaren drängte sich an Thomas wie an einem unliebsamen Türsteher vorbei. "Ist das der Fachanwalt für Grundstücksgeschäfte?" Thomas nickte etwas betreten und verschwand dann mit einer Winkgeste. Sie musste wohl irgendeine seiner Anspielungen falsch verstanden haben. Folker versuchte, seinem Ärger nicht der jungen Frau gegenüber Luft zu machen. Er machte sich klar, eine Mandantin zu betreuen, und dies half ihm, wieder sein Sonnenscheingesicht aufsetzen zu können. Mit einem kurzen gründlichen Blick musterte er sie. Sie war elegant gekleidet, ein Kostüm in einer sehr schmeichelhaften Farbe. Ihr braunes Haar war leicht gelockt und reichte ihr bis über ihre Schultern. Die Haut schien ungeschminkt und war leicht sommersprossig. Er merkte, wie sie ihm zu gefallen begann.

"Entschuldigen Sie bitte, mein Kollege hatte uns nicht vorgestellt," sagte er, indem er aufstand und ihr die Hand reichte. "Folker Sutrikow."

Sie nahm die Hand an. "Elisabeth von Hohenholzheim." Er wies einladend auf einen der drei Sitze, die um einen kleinen Couchtisch wie eine Sitzgruppe angeordnet waren. Sie nickte und setzte sich. Er bat sie, ihr Anliegen zu erläutern.

Frau von Hohenholzheim entschloss sich, mit dem Ende zu beginnen. Zuerst nannte sie also den Tod ihres Bruders am Vortag und fügte die ungeklärten Umstände hinzu. Noch immer war die Ursache seines Dahinscheidens nicht bekannt. Alles hatte vor etwa elf Monaten begonnen, als ihr Bruder, Rüdiger von Hohenholzheim, das Schloss auf dem Paulsberg am Rande der Stadt gekauft hatte. Er war Schriftsteller und Lebemann gewesen, müsse der Anwalt wissen, dabei aber ein sehr penibler Gentleman, sehr auf Ordnung bedacht. Das Schloss war ein lang gehegter Traum von ihm gewesen. Er wollte sich von den alten Gemäuern für Gruselromane inspirieren lassen, der leicht verwilderte Park sollte ihn zu Naturgedichten hinreißen. Der Kaufvertrag hatte eine vergleichweise geringe Summe vorgesehen, aber trotzdem einen großen Teil des Vermögens gefordert. Herr von Hohenholzheim war schon gleich nach Abschluss des Vetrages in das Schloss eingezogen. Noch bevor die ganzen Formalitäten mit dem Grundbuchamt abgeschlossen waren. Dann hatten seine Visionen begonnen, für welche er sie zunächst hielt. Immer wieder hatte er von Erscheinungen erzählt. Die Geister junger Frauen, die seine Bibliothek besuchten. Mannsgroßes dunkles Getier, das das Dach umflog und im Park umherlief. Im Sommer hatte es nachgelassen, aber mit dem Ende des Septembers war es unerträglich geworden. Rüdiger, der es zunächst aufregend und interessant gefunden hatte, bekam es schließlich mit der Angst zu tun. Er hatte sie fast allabendlich angerufen und Beistand in seiner Furcht erbeten. So ging das etwa einen Monat bis zu seinem Tode am Vortag, dem 4. November.

"... und da mir Ihr Kollege Sie als Experten für dieses Gebiet empfohlen hat", schloss sie, "wende ich mich nun an Sie. Welche rechtlichen Schritte sind möglich?"

Folker Sutrikow hatte ihr aufmerksam zugehört, denn sie berichtete in einer klaren Sprache, wie er sie selten hörte. Nun wenige Male hatte er sie unterbrochen, um nach genauen Daten, Terminen und Namen zu fragen. Als ihm am Schluss ihr Missverständnis der Worte Thomas' klar wurde, hatte er das Gefühl, er müsse etwas klarstellen:

"Bevor ich Ihnen antworte, muss ich noch etwas sagen", er sah sie an. "Ich bin kein Fachanwalt für Grundstücksfragen. Der Grund für die Bemerkung meines Kollegen war eine Arbeit, an der ich gerade arbeite."

Sie blickte in sein Gesicht: "Achja, Sie promovieren. Ich habe die Ordner gesehen." Er war leicht verwundert und versuchte, sich dies nicht anmerken zu lassen, sondern zu nicken.

"Es ist eine rechtsgeschichtliche Arbeit", meinte er beiläufig, damit es wichtiger klang. Dadurch, so hoffte er, könnte er schnell wieder zum eigentlichen Thema überleiten. Jedoch bemerkte er bei ihr einen leicht missbilligenden Gesichtsausdruck.

"Sie vertrauen mir nicht", sagte er dann mit schlecht unterdrückter Enttäuschung und einem etwas vorwurfvollen Unterton. "Sie zweifeln an meinen Fähigkeiten und glauben, dass ich ein solch kompliziertes Thema niemals glaubhaft vertreten kann. Schon gar nicht, wenn ich Ihnen nicht glaube."

Elisabeth von Hohenholzheim war etwas irritiert. Unter Anwälten hatte sie sich immer weniger empfindsame Kreaturen vorgestellt. Aber er hatte recht. Zumindest das hatte sie sich von Anwälten sagen lassen. Sie war tatsächlich ein wenig misstrauisch, musste wohl an diesem Thema liegen, vielleicht auch an diesem Anwalt.

Er erhob erneut seine Stimme: "Glaube ich Ihnen?", fragte er scheinbar. "Nun - vielleicht. Ich bin bereit, Ihnen zu glauben. Ich möchte glauben. Aber bisher schwebt nur ein mehr oder weniger phantastischer Sachverhalt im Raum. Und mir ist noch etwas unklar, was Sie anstreben. Gegen wen Sie vorgehen wollen."

Seine Rhetorik schaffte es, sie endgültig zu verwirren. Nach knapp einer Viertelstunde im Zimmer. Sie gab sich selbst und ihm gegenüber zu, sich darüber noch nicht allzu viele Gedanken gemacht zu haben. Aber erst gestern sei ihr Bruder gestorben. Und sie müsse ihm doch Recht verschaffen.

Sutrikow grübelte. Er ergriff den Kugelschreiber und vervollständigte seine Notizen. Dazu ließ er sich noch Anschrift und diverse Nummern geben, unter denen sie über das Telefonnetz erreichbar war. Als Beruf gab sie Journalistin an - bei einer überregionalen Zeitung, die Sutrikow sogar bisweilen las. Er "entließ" sie mit der Versicherung, sich auf jeden Fall am selben Tag noch zu melden. In der Zwischenzeit wollte er sich den Fall durch den Kopf und die elektronische Datenverarbeitung gehen lassen.

Eine Frage hatte er dann noch, als sie sich schon zum Gehen gewandt und bereits die Tür erreicht hatte: wer denn die Ermittlungen leite. Sie teilte den Namen des Hauptkommissars mit - ob der Herr Anwalt dem Fall strafrechtliche Bedeutung beimesse? - Könne dem Anliegen nur dienlich sein, entgegnete dieser, etwas brummig, leicht im Gedanken versunken. Solange die Ermittlungen nicht gerade gegen sie selbst liefen, wie er mit einem Lachen hinzusetzte. Sie lachte zurück, etwas aufgesetzt, und verließ den Raum.

Sie überlegte. Was hatte sie denn erzählt, dass er gleich an die staatlichen Schutzbehörden denken musste? Sie zog die Stirn in tiefe Falten. Ein seltsamer Mann, dieser Anwalt. Aber was sollte man schon von einem Juristen erwarten. Die einzig sympathischen Vertreter dieses Menschenschlages, waren die gescheiterten Jurastudenten, die in der Redaktion herumliefen und das Geschehen in den Gerichtssälen kommentierten oder die Ausführungen auf den Urteilspapieren in normales Deutsch übersetzten. Aber selbst von anderen Juristen war sie ein besseres Verhalten gewöhnt. Die ganze Zeit war sie sich vorgekommen, als störe sie. Und dann hatte er sie "entlassen", was hatte er sich eigentlich gedacht? Aber er musste wohl ein ganz passabler Vertreter seiner Zunft sein, und die Kanzlei galt als eine der besten am Ort. Worüber er wohl promovierte?

Sie setzte sich in ihren Citroën, schnallte sich an und startete den Motor. Ihr Mobiltelefon klingelte. Die angezeigte Nummer kam ihr nicht im geringsten bekannt vor. Aber sie nahm ab.

Folker Sutrikow hörte ein Freizeichen, dann Elisabeths Stimme. Sie schien etwas verwundert zu sein, die seine zu erkennen - und genervt. Ob er sich das Gebäude einmal ansehen dürfte, fragte er in versöhnlichem Tonfall.

"In Ordnung, kommen Sie herunter, ich nehme Sie mit!", lenkte sie ein. Warum hatte er nicht bereits im Haus danach gefragt?


III. ne ultra petita

Die Fotos mussten mittlerweile in der Entwicklung sein. Die staatliche Gewalt hatte den Ort des Geschehens geräumt und zur Beseitigung der Spuren freigegeben. Verena nahm sich ihrer an. Das war ihre Art, den Verlust überhaupt begreifen zu können und eine treffliche Gelegenheit, den Ort in Augenschein zu nehmen.

Die Bibliothek beanspruchte das gesamte zweite Stockwerk und war staubfrei. Rüdiger hatte diesen Ort geliebt, das wusste sie, und es war sichtbar. Kein Buch, keine der langen Bücherzeilen wies auch nur die winzigste Spur einer Staubablagerung auf, als hätte er sie alle gleichzeitig gelesen und rein gehalten. Verena sah sich schon ihres Vorwandes beraubt, hier ihren Spürsinn spielen zu lassen, da fiel ihr der Beschlag der Fenster auf. Bei einem Blick hindurch musste sie schwer atmen. Sie konnte den Herbst beobachten, wie er sich des kleinen Parks auf der Rückseite des Gebäudes annahm und wie auch sie es vorhatte, noch einmal hindurchfegte. Rote, gelbe und bereits braune Blätter lagen auf den zum Lustwandeln angelegten Wegen und schwammen auf der Oberfläche des Teichs. Die einst peinlichst gepflegten Bäume und Büsche veloren ihr letztes Blattwerk und gaben den Blick auf die vermooste Sandsteinmauer frei, die das Grundstück umgab. Die Sonne tauchte in einem Spiel mit der diesigen Luft den Garten in einen gleißendes Licht und verlieh ihm ein gespenstisches Aussehen. Verena ließ einen Seuftzer entweichen und sich in den großen Ohrensessel vor dem hohen Fenster fallen. Mit dem Gesicht lag noch ein Buch auf dem kleinen Lesetisch daneben. 'Wohl das letzte Buch, das er gelesen hat', dachte sie und nahm es in die Hände. Es fühlte sich warm an. Bevor sie auf die Idee kam, den Titel zu entziffern, drangen Geräusche auf dem Erdgeschoss nach oben: Die Eingangstür ging mit einem Knarren auf. Kein Grund zur Sorge, kein Grund zur Sorge.

Sie konnte Elisabeths Lachen erkennen, hörte außerdem eine männliche Stimme - und atmete auf. Die beiden - denn anscheinend waren es zwei - schienen sich zunächst im Erdgeschoss aufzuhalten. Schritte bewegten sich im Salon auf und ab. Blieben stehen. Die Stimmen drangen nur noch gedämpft herauf. Verena griff wieder nach dem Buch - ins Leere. Mit einer finsteren Miene blickte sie unter den Tisch. Dort lag ein Buch. Sie nahm es in die Hand und in genaueren Augenschein. Nietzsche. Durch den Sturz schien es sich gegenüber dem ersten Anblick leicht verändert zu haben. 'Jetzt nur keine schwere Philosophie!', dachte sie und legte das Schriftstück beiseite. Gelächter von unten. Die Schritte unten bewegten sich wieder. Aus dem Salon hinaus - eine Tür wurde geöffnet - wohl in den großen Ballsaal: die Schritte auf Parkettboden waren zu hören.

Verena sah wieder aus dem Fenster. Wie friedlich sah doch die Stadt aus, über die sich die Anhöhe erhob, auf der das Schlösschen stand. Nur wenige Lichter waren zu sehen, einigen Bewohnern war es trotz der nahenden Mittagszeit wohl zu dunkel in ihren Zimmern. Der Fluss schlang sich mit der üblichen Gemächlichkeit durch die Stadt, unter den Brücken hindurch. Im Garten sah Verena nun Elisabeth und ihren Begleiter. Dieser schritt die Parkanlagen ab, ja marschierte fast. Eine stattliche Jacke trug er. Ein Arzt? Nein, was sollte der durch den Garten patroullieren? Aktentasche? Anwalt. Achje! Sollte die Polizei doch einem Tatverdacht nachgehen, so dass Elisabeth einen Verteidiger brauchte? Sie verließen den Garten wieder, zumindest Verenas Blickfeld. Schritte über Parkett. Schritte über Teppich. Treppenstufen. Verena schnappte sich wieder den Staubwedel und tauschte ihn gegen die Putzutensilien am Eingang der Bibliothek ein. Sie wurden dem Anschein nach speziell für die hohen Scheiben im Haus angeschafft. Wenn es im Garten schon soviel zu sehen gab, sollte wenigstens der Blick frei sein. Den grünen Eimer in der Hand begab sie sich zum Ausgang des Lesesaals und sah sich Elisabeth gegenüber, die mit ihrem Begleiter die Bibliothek begutachten wollte.

"Ach hallo Verena", staunte Elisabeth. "Ich wusste gar nicht, dass Du hier bist."

"Ich habe es zuhause nicht ausgehalten", entgegnete Verena. "Da wollte ich das Haus wieder in Ordnung bringen, nachdem es nun von der Polizei dazu freigegeben ist. Wenn Du hier länger brauchst, kümmere ich mich erst um eine andere Etage."

"Tu das lieber", meinte Elisabeth mit einem Kopfnicken zu dem Mann an ihrer Seite. "Herr Sutrikow schien großes Interesse an den Büchern zu haben."

Verena nickte ihm zu und verließ den Raum. Folker Sutrikow blickte ihr leicht verwundert nach, während ihn seine Mandantin fragte, ob sie ihm denn ein Getränk anbieten könne. Er bejahte erfreut und wurde angewiesen, sich überraschen zu lassen. Sie verschwand hinter den Bücherregalen. Lange hörte er noch ihre Schritte, bis sie am anderen Ende des Raumen angekommen zu sein schien. Währenddessen begab er sich zu den großen Fenstern.

"Setzen Sie sich ruhig!", forderte Frau von Hohenholzheim.

Er kam dem nach. Ihre Laune hatte sich während der Fahrt in die Höhenlagen der Stadt deutlich verbessert. Mit stetig wachsender - war Begeisterung das richtige Wort? - mit steigender Bereitwilligkeit jedenfalls hatte sie ihm das Gebäude gezeigt und den von der Polizei - Kommissar Krewicz leitete wohl die Ermittlungen - vermuteten Todeshergang geschildert. Unglaublich war der Blick über die Stadt, trotz des trüben Herbstwetters - oder deswegen? Der verstorbene Herr von Hohenholzheim soll in Panik - so eindeutig der Gerichtsmediziner - aus diesem Stockwerk ins Erdgeschoss gerannt sein, wo er den Tod fand ohne groß nach ihm gesucht zu haben.

"Was überlegen Sie?", Elisabeth von Hohenholzheim stellte ein dampfendes Teeglas neben dem Sessel auf das Tischchen. Sie selbst blieb mit einem weiteren Glas in der Hand stehen. Doch bevor er eine Antwort geben konnte oder zugeben musste, das schon wieder vergessen zu haben, setzte sie fort: "Oh, entschuldigen Sie! Nehmen Sie Milch und Zucker?"

Er nahm niemals Milch und Zucker in den Tee und sagte ihr das. Dann blies er etwas kühlende Atemluft über die Teeoberfläche und setzte wie sie das Glas an den Mund für einen vorsichtigen ersten Schluck. Ein guter Tee.

Eine Viertelstunde später wusste er alles über die Geschichte eines jeden Flecks der zu ihren Füßen liegenden Stadt. Er stand auf, um sich in den Buchregalen ein wenig umzusehen. Alte Bücher hatten auf ihn schon immer eine gewisse Anziehungskraft ausgeübt. Dass man in einer solchen Umgebung beginnt, an Gespenster zu glauben, wunderte ihn nicht: der Garten ließ fast hinter jedem von Nagetieren bevölkerten Busch eine verlorene Seele und in den trüben Teich zumindest Klabautergeister vermuten. Auch unter den Büchern, die bei ihm grundsätzlich eine gewisse Vertrautheit hervorriefen, könnte man allerhand wähnen. Sollte sich, nachdem er ein bestimmtes Buch herausgezogen haben würde, die Tür zu einem geheimen Verbindungsgang öffnen? Bei welchem dieser Bücher könnte das wahrscheinlich sein, überlegte er mit einem Schmunzeln. Diesen Gedanken verwerfend, griff er nach einem Sammelband von Eduard Möricke - und stieß auf einen unvermuteten Widerstand. Die Bücher schienen recht eng im Regal zu stehen. Er bereitete sich vor, erhöhte Kraftanstrengungen einzusetzen, als ein eiskalter Wind zwischen den beiden Regalwänden hindurchwehte. Ein Schauer überlief ihn. So vergaß er, dass er mit ganzer Kraft an dem Buch zerrte. Urplötzlich fiel es ihm wieder ein, als nicht nur der gewünschte Band, sondern auch die benachbarten der Schwerkraft folge leisteten und er sich auf dem Boden wiederfand.

"Herr Sutrikow!", rief Elisabeth von Hohenholzheim. "Haben Sie sich etwas getan?"

Folker Sutrikow antwortete nicht. Er beobachtete die Gestalt, die neben ihm aufgetaucht war. Der hellhäutige Mann jüngeren Alters trug einen dunkelblonden, buschigen Vollbart und lockige Haare, die fast schon einen Turban bildeten. Sein ausgewaschenes grünes Sweatshirt war mit einem hellbraunen Kragen und braunroten Flecken in der Magengegend geziert. Der Unbekannte trat mit seiner verblichenen und schmutzigen Jeans einen Schritt auf ihn zu und musterte ihn hinter seiner Brille, die Stirn kraus ziehend. Dann reichte er Folker die Hand, ihn freundlich anlachend. Folker nahm die ihm entgegengebrachte Hilfe freudig und verwirrt an und ergriff die dargebotene Hand. Da änderte sich die Miene seines Gegenübers schlagartig. Die hellrosa Haut nahm eine tiefrote Färbung an, die Augen blitzten fordernd unter den zusammengezogenen, buschigen Augenbrauen. Das Haar war tiefschwarz geworden und glänzte ölig zurückgekämmt im Licht der Kronbeleuchtung. Die mit einem Mal wulstigen Lippen waren zu einem breiten Grinsen verzogen. In die Hand des jungen Anwalts bohrten sich lange und spitze Fingernägel. Er schrie, riss den Mund auf. Seine Lungen wollten ihm bersten, doch er bekam keinen Ton heraus.

"Herr Sutrikow!", fragte Frau von Hohenholzheim noch einmal. "Geht es Ihnen gut?"

"Ich .... ich denke schon", stammelte dieser. Er betrachtete seine Hand. Deutlich waren die Druckstellen zu erkennen. Noch immer war er von einigen Büchern bedeckt. Er ergriff nur zögerlich die entgegengereichte Hand seiner Mandantin. Sie zog ihn herauf.

"Sie bluten", merkte sie beim Betrachten seines Handrückens an. "Alte Bücher haben manchmal scharfe Kanten." Nach einem erschöpften Nicken von ihm setzte sie fort: "Ich müsste etwas Jodersatz in meiner Handtasche haben."

Es brannte. Folker vorzog sein Gesicht. "Extra stark", triumphierte sie. "So leicht stirbt man nicht."

"Was ist denn hier passiert?" Verena hatte den Raum betreten und sich zu ihnen gesellt. "Soll Herr Sutrikow uns vor Gericht vertreten oder in einem Faustkampf - oder gar in einem Brandanschlag?" Den missbilligenden Blick Elisabethens ignorierend setzte sie fort: "Wenn Ihr fertig seid - ich würde gerne hier beenden, was ich begonnen hatte."

"Also Verena....", wollte Elisabeth entgegnen, aber Herr Sutrikow unterbrach sie: "Ist schon gut, ich habe vorerst alles, und das Interesse an den antiquarischen Beständen ist für heute auch verflogen. Sie faxen mir die Kaufverträge und die Vollmachtsurkunde dann heute nachmittag zu?", fragte er zum Abschluss in Elisabeths Richtung.

Sie nickte. "Am besten fahre ich Sie wieder in Ihre Kanzlei", bot sie an. "In diesem Zustand kann ich Sie nicht dem öffentlichen Personennahverkehr ausliefern."

Folker entgegnete nichts und begleitete Elisabeth ebenso wortlos die Stufen hinab, durch die Tür, in ihr Auto und mit diesem wieder in den Ort.


IV. semper aliquid haeret

Folker stellte den Becher für den Malzkaffee wieder vor sich auf den Tisch. Seine Schreibtischlampe senkte nach dieser Erschütterung den Kopf und tauchte in die Tasse ein. Er streckte die Lampe seufzend wieder in die Höhe. Zum Glück war die Tasse leer.

Wieder wandte er sich dem Bücherstapel zu. Es war hoffnungslos. Neuere Lehrbücher und Kommentare behandelten das Thema überhaupt nicht. Gerade mal angesprochen hatte es ein Lehrbuch aus den Fünfziger Jahren, Enneccerus/Lehmann. Und der hatte es verneint, bei "Gespensterfurcht" einen Mangel der Sache anzunehmen. In den nächsten Tagen würde Folker wohl wieder häufiger die Bibliothek der Universität aufsuchen müssen, um dort ältere Bücher ausfindig zu machen. Irgendwann müsste doch soetwas selbst die bodenständige Juristenzunft beschäftigt haben, zumindest die deutschen Rechtshistoriker. Ob in der Bibliothek dieser Stadtvilla etwas darüber stehen würde?

Inzwischen war es Abend geworden. Grau hingen die Wolken am Himmel und reflektierten diffus das bunte Licht der Stadt am Horizont. Dieser dunkle Vogel ging mal wieder vor dem Fenster auf und ab. Folker stützte etwas entnervt den Kopf in seine Hände und fuhr sich durch den buschigen Haarschopf. Buschiger Haarschopf! Morgen würde er zum Friseur gehen! Gleich nachdem er nochmal in dieser Villa war zumindest.

Es klopfte und Thomas trat ohne weitere Vorrede ein. "Wie weit bist du mit der Mandantin von heute morgen?", fragte er, ohne seinen hämischen Unterton auch nur im geringsten zu unterdrücken.

"Erstes Gespräch, Augenscheinnahme, Überprüfung der materiellen Rechtslage", antwortete Folker trocken. Er sprach mit seinem Kollegen nicht gern über die Fälle, die er übernahm, nicht mit diesem.

"Wenn Du den Fall bis zum Bundesgerichtshof bekommst", spottete Thomas weiter. "Dann hast du gleich höchstrichterliche Rechtsprechung, veröffentlicht in 'Recht und Spuk', die du für deine Dissertation zitieren kannst,."

"Ich behandele in meiner Dissertation die rechtshistorische Entwicklung der mystischen Einflüsse auf Grundstücke und Gebäude als Fehler der Sache", fühlte sich Folker einmal mehr gemüßigt zu sagen. "Nicht behandeln will ich die jetzige Rechtslage. Kein deutsches Gericht hat sich in den letzten 50 Jahren mit einem ähnlichen Fall beschäftigt. Daneben schweigen sich auch die abstrustesten Lehrbücher zu diesem Thema aus."

"Worauf willst du eigentlich vor Gericht hinaus?", ließ Thomas seiner Neugierde nun den freien Lauf.

Folker atmete tief durch: "Ich möchte die Tatsache, dass es in dieser alten Villa spukt und deshalb Herr von Hohenholzheim zu Tode gekommen ist, als Sachmangel werten und seiner Schwester den Kaufpreis deshalb teilweise zurückerstatten lassen."

Das war zuviel für Thomas. Er brach in lautes Lachen aus. "Hoffentlich fasst du das in bessere Wörter, sonst ordnet der Richter gleich noch deine Unterbringung an", sagte er, als er wieder Luft bekam und sich vom Boden, auf dem er sich gekugelt hatte, wieder erhob. "Das Leben spielt sich nicht in der Zeitschrift für Rechtsmythologie ab, sondern hier, in der Wirklichkeit."

"Wie oft hast du das schon in Filmen gehört?", meinte da Folker mit bitterer Miene. "'Das ist kein Film, das ist die Wirklichkeit!' Für wie viele Filme, übrigens nicht unbedingt die besten, wird damit geworben, dass sie auf der Wirklichkeit beruhen? Jedoch ist das Leben auch nur ein Film, der vor deinem inneren Auge abläuft, bevor du stirbst. Schonmal darüber nachgedacht?"

Thomas erhob sich aus dem Sessel und schüttelte den Kopf. "Du solltest dir das nochmal überlegen." Seine Stimme klang bereits wieder versöhnlich. "Bis morgen dann!"

"Verhandelt wird Aktenzeichen XIII U 154/01, von Hohenholzheim wider Tolkewitz", sprach der Vorsitzende Richter der dreizehnten Zivilkammer des Landgerichts in sein Mikrophon. Die ersten morgendlichen Sonnenstrahlen fielen in den Gerichtssaal und erhellten die aus Kiefernholz gefertigte Einrichtung desselben. Der Geruch von Pfeifenrauch lag in der Luft, obwohl offiziell nicht geraucht wurde. Noch während seines Referendariats hatte Folker geglaubt, der Geruch käme von den Pfeifenrauchern unter den Rechtsanwälten. Aber mit höherer Wahrscheinlichkeit wurde er hauptsächlich von den Wachtmeistern im Justizdienst verursacht. Folker Sutrikow, ein Nichtraucher in schwarzer Anwaltsrobe, trat vor den Richter, neben seinen Kollegen von der Gegenseite, der ebensowenig rauchte.

"Herr Sutrikow", eröffnete der Vorsitzende, während seine beiden Beisitzer ausnahmsweise einmal interessiert und auch ein wenig amüsiert auf den Anwalt vor ihnen herabsahen. "Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich Ihre Klageschrift ernst nehmen soll."

"Ich bin mir sicher, Herr Voristzender", erwiderte Folker. "Das werden Sie spätestens nach einer Ortsbegehung. Da spreche ich aus eigener Erfahrung."

"Herr Sutrikow", setzte der Vorsitzende schon etwas ungehaltener nach. "Ihre Erfahrungen möchte ich - ohne Ihre Befähigung als Anwalt per se anzuzweifeln - zumindest diesbezüglich doch in Frage stellen. Sie können sich nicht vor ein deutsches Gericht stellen, aus irgendwelchen Spukgeschichten Ansprüche herleiten und dann noch glauben, damit Erfolg zu haben."

"Bei allem Respekt, Herr Vorsitzender", Folker fühlte sich langsam in die Ecke gedrängt. "Sie können dies nicht einfach a limine abweisen. Nicht, ohne sich das Objekt und die dortigen Vorgänge einmal angesehen zu haben!"

"Ich verbitte mir diesen Ton, Herr Anwalt. Sonst sehe ich mich noch gezwungen, ein Ordnungsgeld zu verhängen."

Folker sah kurz das Bild seiner Mandantin vor seinen Augen aufleuchten. Danach schien ihm alles wie durch eine rote Brille. Der Gerichtssaal, die Richter, der Anwalt der Gegenpartei. Alles war so unwirklich. Der Herr Vorsitzende, vor dem er immer einen gehörigen Respekt gehabt hatte, kam ihm nur noch als ein Gegner vor. Warum wollte er auch den bloßen Gedanken sofort abweisen? Warum wollte er seine Augen nicht sehen, seine Ohren nicht hören, seine Sinne nicht begreifen lassen? Noch nie hatte Folker wirklich bemerkt, wie unvorteilhaft der Vorsitzende Richter aussah: die Körperfülle, die sich unter der Richterrobe abzeichnete, die schwammigen Lappen unter den Augen, der Froschmund, dieser grauenvolle Akzent. Er war ein Gegner.

Folker blickte auf seine Hände. Sie kamen ihm anders vor als noch vor fünf Minuten. Roter, fleischiger. Und hatte er wirklich solche Schwielen? Seine Fingernägel sollte er sich mal schneiden.

"Wenn Sie nichts mehr vorzubringen haben, würde ich gerne die mündliche Verhandlung schließen und dann bald entscheiden", vernahm Folker von der Richterbank. Er sah, wie der Anwalt neben ihm mit dem Kopf schüttelte.

Er spürte, wie Blut ihm ins Haupt schoss. Blut. Seine Fäuste ballten sich in den Taschen. Die Arme fühlten sich kräftiger an. In seinen Beinen wuchs das Bedürfnis zu springen.

Er machte einen Satz auf die Richterbank. Der Vorsitzende Richter zuckte zurück, als er zwei kräftige Hände an seiner Kehle spürte und bemerkte, wie sich spitze Krallen in seinen Hals zu bohren versuchten. Vor sich sah er den jungen Prozessvertreter der Klägerseite, Folker Sutrikow. Und daneben nocheinmal. Ohne die schwarze Robe aber eindeutig derselbe Mensch. Auch dahinter erschien ein weiterer Sutrikow, gekleidet in braunem Fellumhang. Ein weiterer kohleverrußt mit blauem Overall. Der erfahrene Richter der dreizehnten Zivilkammer erschrak. Der Raum war gefüllt mit Folker Sutrikow. Und Folker Sutrikow war bewaffnet mit Fäusten, mit Füßen und mit Zähnen. Und sie kamen auf ihn zu. Sie hackten auf ihn ein. Sie zerkratzten sein Gesicht. Sie erwürgten ihn.

Folker Sutrikow saß schweißgebadet in seinem Bett.


V. da mihi facta, dabo tibi ius

Mürrisch erschien der Anwalt am nächsten Morgen in seinem Büro. Sein Mund fühlte sich staubtrocken an. Das Wasser hatte man wegen Wartungsarbeiten in seinem Haus abgestellt. So hatte er auf seinen Tee verzichten müssen, auf seine morgendliche Dusche. Nicht einmal die Zähne hatte er sich putzen können. Brummig und auch etwas verstört setzte er sich an seinen Schreibtisch. Er blickte auf die Uhr. Eine halbe Stunde früher als gewöhnlich. Die Büroräume waren fast menschenleer. Nur eine Sekretärin hatte er angetroffen, die die über Nacht eingegangen Faxe in die Postfächer sortierte. Soeben schien sie ihren PC eingeschaltet zu haben. Folker ging der Traum der vergangenen Nacht nicht aus dem Kopf. Die Leere der Kanzlei am frühen Morgen half ihm jedenfalls nicht, diese Gedanken zu vertreiben. Also packte er sein Frühstück aus der Plastiktüte des nahen Supermarkts und breitete es auf seinem Schreibtisch aus. Fehlte noch ein Tee. Er nahm seinen kleinen Wasserkocher aus einer Schreibtischschublade und ging in die Teeküche, um ihn zu füllen. Doch auch, als er hier den Hahn öffnete, blieb das Wasser aus. Erst da fiel ihm das Memo an der Tür auf, dass auch in dem Bürohaus das Wasser bis zum Mittag abgestellt würde. Nunmehr vollkommen desillusioniert kehrte Folker an seinen Schreibtisch zurück und kaute gedankenverloren an seinen Broten, während er die Zeitung des Vortags las. Er dachte über seinen seltsamen Traum nach. Sollte er ihn als einen Hinweis seines Unterbewusstseins werten? Vielleicht war er ja etwas voreilig auf seinen berüchtigten Kurs eingeschwenkt. Wollte er der Welt vielleicht nur etwas beweisen? Das durfte er nicht auf Kosten seiner Mandantin durchboxen! Worauf aber sollte er sonst abstellen? Dass der Vertrag komisch roch, dürfte für sich allein keinen Klaganspruch begründen.

"Guten Morgen, Herr Sutrikow!", hörte Folker. Dr. Fischer war in der Zwischenzeit eingetreten. Der junge Anwalt sah den 60jährigen Gründungspartner vor sich. Folker hatte immer einen gehörigen Respekt vor dem sympathischen alten Herrn gehabt. Er galt als einer der besten Anwälte der Stadt. Einst war er Richter gewesen. Vielleicht hatte er das Abenteuer der Selbstständigkeit des Anwaltberufs gesucht und es der Stellung des Richters vorgezogen. Folker hatte sich darüber nie solche Gedanken gemacht. Anfangs hatte er Angst gehabt, den Erwartungen der Kanzlei nicht gerecht zu werden. Erwartungen, die an einen Juristen mit Sutrikows Abschluss gestellt werden durften. Sutrikow stand auf und bemühte sich eilig, das Frühstück zu beseitigen.

"Ach, lassen Sie nur!", beruhigte Dr. Fischer. "Ihre Arbeitszeit hat ja noch nicht angefangen. Ich bin heute auch etwas früher da. Man hat bei mir im Viertel für einige Stunden das Wasser abgestellt, und ich wollte hier einen Kaffee trinken."

Das kam Folker nur allzu bekannt vor. Heute musste der Weltwassertag der UNO sein.

"Ich habe von ihrer Mandantin gehört, Herr Sutrikow", setzte Dr. Fischer fort. "Der Fall gefällt mir nicht. Wir sollten nicht so einen Sachverhalt auf eine solche Weise verhandeln. Ich weiß ja, dass das Thema Ihrer Dissertation einen gewissen Bezug hat. Aber, Herr Sutrikow, diese Klage ist grober Unfug!" Und mit einem versöhnlichen Blick setzte er hinzu: "Das war früher strafbar."

Sutrikow ließ diese Worte noch auf sich wirken, als Dr. Fischer den Raum schon verlassen hatte. Wie konnte er nur einen anderen Weg finden. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, was ihm an dem Vertragstext so missfallen hatte. Er musste sich stark zusammenreißen, nicht "Heureka!" zu rufen, als er jetzt aufsprang. Seine Hände wollten schwitzten, aber blieben trocken. Er würde jetzt an den Stadtrand fahren. Wohlige Aufregung verdrängte in seinem Inneren die Sorgen der letzten Minuten. Sogar seinen Durst vergaß er. Ja, er würde sie wiedersehen. Oh, wie hatte er ein Wiedersehen herbeigesehnt! Endlich würde er sie wiedersehen, die Bibliothek des alten Gemäuers. Nun würde er sie durchstöbern können. Und er war sich sicher, diesmal fündig zu werden.

Verena hatte nicht mit dem Besuch gerechnet, der nun selig zwischen den Büchern des obersten Stockwerks saß. Aber sie hatte sich vorgenommen, sich über gar nichts mehr zu wundern. Hier waren in den letzten Wochen und Monaten schon so seltsame Typen ein und ausgegangen. Vom Polizisten über selbsternannte Raumschiffkapitäne bis zu Gemeindebeamten. Und das war vor Rüdigers Tod. Was machte da schon ein ein Rechtsanwalt mit etwas zu engagierter Berufsauffassung? Nur hoffte sie, dass er nicht wieder unter umfallenden Regalen zusammenbrach. Man würde sie am Ende noch dafür zur Verantwortung ziehen. So beobachtete sie ihn. Niedlich irgendwie mit seinen strahlenden Augen unter der schmalen Brille. Dennoch missfiel er ihr. Sie hatte das Gefühl, Rüdiger vor ihm beschützen zu müssen. Ein sehr unbestimmtes Gefühl, über das sie sich selbst wunderte. Aber ihren Rüdiger hatte sie vor einigem beschützen müssen, was er sich selbst eingebrockt hatte. Das war es, das sie verbunden hatte, der Grundstein ihrer Beziehung. Ein Mensch, der sich von der Welt genauso verraten fühlte wie sie selbst. Und doch war er so vertrauensselig und vertrauenserweckend durch sein kurzes Leben gegangen. Sie lächelte in ihrem Betrübnis. Wie konnte ein Mensch nur so unablässig lesen, fragte sie sich und wusste nicht, ob sie damit Rüdiger oder diesen Juristen meinte. Keinen Tee hatte er haben wollen, als sie ihn angesprochen hatte. Wäre wohl auch schwierig geworden, wo man doch heute in diesem Viertel das Wasser abgeschaltet hatte. Aber auch Saft und Cola hatte er abgelehnt. Sie hatte ja nur höflich sein wollen. Mit der Ablehnung wurde sie fertig. Was ihr aber übel aufgestoßen hatte: jede freundliche Andeutung, er möge doch seine Schuhe ausziehen, hatte er nicht mitbekommen. So beobachtete sie ihn. Vielleicht würde sie es ja schaffen, ihm ein wenig im Wege herumzustehen, wenn er wieder ein weiteres Buch brauchte. Sie lächelte wieder etwas bei der Aussicht, ihm auch auf ihre Weise auf die Nerven gehen zu können.

Rechtsanwalt Sutrikow war in seine Bücher vertieft. Interessiert forschte er in der Geschichte dieses Schlösschens am Stadtrand. Zunächst war es nur eine Idee gewesen. Nach mehrstündigen Untersuchungen war er jedoch mit sich übereingekommen, auf der richtigen Spur zu sein. Außerdem entwickelte er eine kleine Liebesbeziehung zu dem notariellen Kaufvertrag, der ihm zuvor noch soviel Unbehagen bereitet hatte. Wieviel Freude würde es ihm machen, dieses Papier bis auf die Knochen auszuziehen und verbal zu zerstückeln! Veträumt streichelte er die empfindlichste Stelle des Dokuments, eine Klausel, ein unscheinbarer, kleiner Satz. Abrupt riss er sich selbst wieder aus den Träumen, um konzentriert weiter zu arbeiten. Er wagte nicht hochzusehen. Was würde er schon sehen, mal abgesehen von der Verlobten des Verblichenen, die ihn schon eine geschlagene Stunde misstrauisch ansah? Nach der Trockenheit seiner Kehle zu urteilen würde er bei einem Blick aus dem riesigen Fenster doch nur verdorrte Bäume sehen, dort wo vortags noch buntes Blattwerk erkennbar war. Einen ausgetrockneten See vielleicht. Daneben die Gerippe einiger Vögel, die verzweifelt nach Wasser gesucht hatten. Er stellte sich die Risse in der sonnengeblichenen Erde vor, dort wo zuvor noch üppiges Gras gewachsen war. Irgendwo, in höheren Sphären müsste es eine grausame Wettergöttin geben, die in Wasser etwas Unanständiges sah und in ihrem Irrsinn die gepeinigte kleine Möchtegern-Großstadt vor jeglichen Flüssigkeiten zu bewahren suchte. Doch er wich wieder in seinen Gedanken ab. Zu erforschen hatte er die Geschichte dieses Gebäudes! Sollte Frau von Hohenholzheim am späten Nachmittag zurückkommen - eine Auskunft, die ihm widerwillig Verena Birkhamm gegeben hatte -, wollte er etwas vorzuweisen haben. Er würde sich für sein blindes Vorpreschen entschuldigen und ihr einen nunmehr zu verfolgenden Klaganspruch präsentieren. Und da hatte er auch schon, was er suchte!

Gestresst und verspätet kehrte Elisabeth am Abend aus der Redaktion zurück. Was für ein Tag! Die Hälfte der Stadt war aufgrund technischer Defekte ohne fließend Wasser. Eine fantastische Geschichte gegen die mürben Verwaltungsapparate der Stadtwerke, bestätigt durch dutzende Aussagen unzufriedener Bürger. O ja, auch der Beamte hatte etwas ausgesagt von wegen bald beseitigt. Wenigstens durfte sie auch den Kommentar schreiben, den Senf zu ihren Storys gab sie schließlich immer noch selbst ab! Ihr Wagen erreichte die Einfahrt des Grundstücks ihres Bruders. Mit etwas Verwunderung stellte sie fest, dass Verenas Fahrrad vor der Treppe des Schlösschens stand. Am Abend pflegte sie doch sonst nicht hier zu sein. War etwas passiert, oder hatte Verena einfach nur ihre Gewohnheiten geändert? Mit dem Vorsatz, sich überraschen zu lassen, trat sie ein. Verena kam ihr entgegen.

"Dein Anwalt wartet im Garten auf dich", begrüßte sie sie.

Elisabeth, die keine große Lust auf eine Plauderei verspürte, nickte nur und ging hinaus.

Bereits vor einer Stunde hatte Folker begonnen, an der frischen Luft seine Taktik zu durchdenken. Langsam schritt er durch den wilden Rasen, ließ den Wind durch sein Haar fahren. Die Bäume rauschten und wisperten ihm zu. Das feuchte Gras gab bei jedem seiner Schritte Schmatzgeräusche von sich. Auf dem Teich, der keinesfalls ausgetrocknet war, kräuselten sich winzige Wellen. Die kleine Bank, die er schon ins Auge gefasst hatte, war bereits besetzt. Ein junges Mädchen mit langen braunen Haaren blickte verloren vor sich auf den Boden. Folker traute sich kaum zu rühren. Die Gestalt trug Jeans und ein gebatictes Sweatsheart, dessen Farbgebung von rosa nach orange floss. Im Gedanken fragte sich Folker, ob sie nicht fröre, denn etwas wärmeres trug sie nicht. Sie blickte ihn an. Er sah ein Paar der bezaubernsten und dunkelsten Augen, die er je erblickt hatte. Ihre Haut war bleich, ihre Lippen aschfahl. Folker war sich nun sicher, dass diese arme Person vor der Kälte zu retten sei. Er legte seinen Mantel ab und schritt auf sie zu.

"Hier, nehmen Sie! Sie müssen doch frieren", ließ er sich sanft vernehmen. Die junge Frau, die Folker auf etwa 22 einschätzte, blickte zu ihm herauf. Ihre Augen schienen traurig. Weiter rührte sie sich nicht. "Wie ist denn Ihr Name, bitte?", fragte Sutrikow, dem sonst nichts besseres einfiel.

"Janine!", rief die Gestalt, indem sie ihren Mund weit aufriss und zwei Reihen spitzer Zähne im bunten Farbspiel des Sonnenuntergangs glitzern ließ. Sie hob ihre Arme und streckte ihm ihre knochigen Hände entgegen, an deren Fingerspitzen Folker dunkle Krallen erkannte. Folker rührte sich nicht. Mit weit offenem Mund stand er an seinem Fleck. Stunden zogen durch seinen Kopf. Die Kreatur ging auf ihn zu, ohne jedoch vorwärts zu kommen.

Elisabeth trat aus dem Gebäude und blickte in den Mond, wie er sich über die Wiesen und Bäume des Garten erhob und sie in sein fahles Licht tauchte. Irgendwie konnte sie Rüdiger doch verstehen, dass er dieses Grundstück haben musste. Soweit sie ihre Augen jedoch auch aufsperrte, sah sie Herrn Sutrikow dennoch nicht. Widerwillig ging sie also durch das nasse Gras. Wenigstens andere Schuhe hätte sie vorher anziehen sollen! Mit ihren Pfennigabsätzen schien sie mit jedem Schritt tief ins Erdreich abzusinken. Auf der Gartenbank sah sie ihn schließlich sitzen. Er hatte die Augen weit aufgerissen. Sein Mund war geöffnet. Das Gras des Parks konnte kaum wilder aussehen als seine Haare. Sie konnte keine Regung bei ihm bemerken, als sie ihn vorsichtig ansprach. Aufgeregt griff sie ihn bei den Schultern und rüttelte ihn. Mit einem Mal fühlte sie sich für ihn verantwortlich, hatte sie das verursacht? Sie hätte so etwas doch ahnen müssen. Er hustete. Seine Jacke war wirr über den Schoß geworfen und fiel in die Tiefe, als er nun in die Höhe sprang.

"Oh, sie ist weg", stellte er verwirrt fest. "Frau von Hohenholzheim! Ich habe ein sehr anregendes Gespräch mit ihrer Gärtnerin geführt." Er rieb sich das Gesicht, als wollte er Lippenstift entfernen. Als er die krauß gezogene Stirn seiner Mandantin sah, setzte er fort: "Aber Sie sind sicherlich nicht in den Garten gekommen, um sich das anzuhören, nicht? Ich wollte Ihnen auch etwas anderes mitteilen. Weshalb ich nämlich zu Ihnen gekommen bin: Für Ihr Anliegen, wie wir es bisher verfolgen wollten, sehe ich nur geringe Erfolgsaussichten vor Gericht. Sie könnten eher eine Begnadigung als Todeskandidat in Texas erhalten als einen Sieg mit dieser Argumentation vor einem deutschen Gericht, glauben Sie mir."

"Sie glauben mir also immer noch nicht?", fragte Elisabeth in einem leicht gereizten Tonfall.

"Doch, ich glaube Ihnen", setzte Folker schnell ein. "Aber ich kenne keinen Richter, der davon zu überzeugen wäre. Nicht einmal für eine Augenscheinnahme des Grundstücks sehe ich eine Chance. Der Weg, den ich nunmehr vorschlagen möchte...."

"Sparen Sie sich das bitte!", unterbrach von Hohenholzheim. "Ich bin nicht interessiert."

"Lassen Sie mich bitte ausreden", Sutrikow übte sich in Geduld. "Im Kaufvertrag ist so gut wie jede Haftung für Mängel ausgeschlossen worden. Das ist eine Standardklausel, die unseren Standpunkt erschwert. Allerdings wurde in zwei Fällen eine Mängelfreiheit zugesichert: Der Vorbesitzer garantiert, dass man hier keine Geister oder ähnliche Spukgestalten sehen würde und - was für uns wichtig ist -, dass das Schloss nicht unter Denkmalschutz stehe."

Er setzte ein triumphales Lächeln auf und setzte fort: "Aber es steht seit zwei Jahren unter Denkmalschutz! Was sagen Sie nun?"

Ihr Blick ließ nicht gerade die erhoffte Begeisterung erkennen. "Sagen Sie mir, dass Sie das nicht vorhaben!"

"Doch, ich werde diesen Ansprich stattdesssen verfolgen", entgegnete Folker verblüfft.

"Das werden Sie nicht!", entfuhr es Elisabeth. "Ich verbiete es Ihnen! Das lasse ich nicht zu. Ich bezahle Sie schließlich. Das können Sie nicht mit mir machen! Was denken Sie sich eigentlich?"

Folker war sprachlos. Eine derartige Reaktion war in seinem Plan nicht vorgesehen. Er hörte sich noch einige Zeit die aufgelöste, unzusammenhängende Rede Frau von Hohenholzheims an.

"Okay, Sie bezahlen mich", unterbrach er dann, als ihr Redefluss etwas abschwoll. "Und das müssen Sie auch, wenn wir den Prozess nach Bausch und Bogen verlieren, das wissen Sie."

Frau von Hohenholzheim brach nun selbst ihre Ausführungen ab und nickte, etwas unentschlossen.

"Und Sie werden nicht nur mich bezahlen", fuhr Folker fort. "Sie werden auch die Gerichtskosten zahlen und den gegnerischen Anwalt und..."

"Ist ja gut!", fuhr Elisabeth wieder dazwischen. "Worauf wollen Sie hinaus?"

"Wenn ich mich schon für Sie vor Gericht lächerlich mache", genoss Sutrikow nun bald die neue Lage. "so sollten Sie mich auch den den Denkmalschutz zumindest zusätzlich verfolgen lassen. Auch ich verliere ungern Prozesse."

"Ich bin einverstanden", beruhigte sich Elisabeth nun wieder. "Aber lassen Sie nicht die Gespenster fallen. Ich bestehe darauf!"

Folker nickte und griff unter seine Jacke. Sein Mobiltelefon hatte vibriert. Nach einigen wenigen Brummtönen, die er in das Gerät sprach, steckte er es wieder ein. Er müsse weg, sie seien sich ja nun einig. Sie möge noch ihre Gärtnerin grüßen.


VI. iura novit curia

Als Folker daraufhin in der Kanzlei ankam, wartete Thomas bereits auf ihn. Er hatte sein übliches Grinsen abgelegt und blickte nun recht ernst. Das machte Folker stutzig.

"Sie haben dich zum Pflichtverteidiger berufen", wurde Sutrikow begrüßt. "Ein etwas hmmmm.... komplizierter Fall."

Schwang da nicht ein wenig Enttäuschung, ja Neid mit? Thomas, der Strafrechtsexperte, wurde übergangen, obwohl er sich wie Folker auch, auf die Liste bei den Gerichten hatte setzen lassen? Doch bemühte Folker sich, diesen Triumph nicht zu zeigen.

"Anschuldigung?", fragte er stattdessen so trocken und unberührt, wie er nur konnte.

"Drogendelikte", antwortete Thomas, der seine Dissertation über eben diese Straftatbestände schrieb, wehleidig. "Der Kerl soll völlig bekifft sein."

Folker, wieder völlig von den Schrecken des Tages erholt, antwortete zur Aufmunterung seines Kollegen, er solle es nicht zu ernst nehmen, er selbst hielte es in puncto Leben mit James Saunders. "Man hat das Leben nicht ernstzunehmen. Es ist nur ein billiger Abklatsch einer Fernsehserie, eine Beleidigung für die Intelligenz. Geschrieben von einem Narren, von mittelmäßigen Laiendarstellern schlecht gespielt. Und der Regisseur wurde wegen Unstimmigkeiten mit dem Management bei ungeklärter Nachfolgefrage anscheinend schon vor langem gefeuert und hat sich ins Ausland geflüchtet."

"Wahrscheinlich hatte er Drogen genommen", meinte Thomas.

"Naja", freute sich nun wieder Folker und sah sich demonstrativ um. "Über die Kulissen schließlich brauche ich wohl kein Wort zu verlieren."

Und er nahm noch seine Gesetzessammlung vom Schreibtisch, ließ sich den Aufenthaltsort seines Mandanten mitteilen und brach auf, noch etwas von miserablen Spezialeffekten murmelnd..

Vor dem Gefängnis, in dem auch die Untersuchungshäftlinge untergebracht waren, blickte Folker noch einmal den Mond an. War es Vollmond? Folker heulte ihn zur Sicherheit einmal an. Ein vorbeilaufender Hund blickte sich verwundert um. Dann gelangte der junge Anwalt durch die Pforten des Gemäuers. Er teilte dem Wachtmeister den Namen seines Mandanten mit. Normalerweise sei ja die Besuchszeit vorbei, brummte dieser, aber in diesem Fall. Sutrikow werde ja schon erwartet. Er möge sich doch setzen und ein paar Minuten warten. Dann verschwand der grüngekleidete Mann hinter einer Tür, die sich sofort wieder schloss.

Folker setzte sich hinter den angebotenen Tisch und holte seinen Notizblock heraus. Aus Erfahrung wusste er, dass sich dies etwas hinziehen konnte. So entwarf er eine Klageschrift für Elisabeth von Hohenholzheim. Zusammen mit den Einzelheiten, die er sich im Laufe des Tages aus den Büchern geschrieben hatte, dürfte sich ein passabler Schriftsatz erstellen lassen. Ein wenig wunderte er sich schon, warum seine Mandantin so auf den Klageweg mit der Verwünschung bestanden hatte. Vielleicht eine Familientradition. Bei diesen Adelsgeschlechtern wusste man ja nie. Und wer weiß, vielleicht hatte dieser Weg ja doch seine Vorzüge. Vielleicht würde er eine gewisse Berühmtheit erlangen. Aber wenn ihn die Frankfurter Allgemeine Zeitung um ein Interview bäte, würde er nur unter der Bedingung zusagen, dass sie es in neuer Rechtschreibung druckten. Nicht, weil er wirklich so versessen darauf wäre. Aber nur so würde er wissen, ob es ihnen ernst wäre.

Ihm gefiel der Gedanke noch, als der Wachtmeister den Beschuldigten hereinführte. Folker blickte erst auf, etwas erschrocken, als dieser sich ihm gegenüber hingesetzt hatte. Vor ihm saß ein hellhäutiger Mann jüngeren Alters. Er trug einen dunkelblonden bis mittelbraunen, struppigen Vollbart und lockige Haare, die fast schon einen Turban bildeten. Über Folkers Schweigen schien er verwundert, er zog die Stirn in Falten und blickte den Anwalt durch seine dezente Brille aus grünblauen Augen an. Sutrikow zwickte sich und betrachtete den Untersuchungshäftling noch einmal. Trüge dieser nicht die Anstaltskleidung, sondern ein ausgewaschenes grünes Sweatshirt mit hellbraunem Kragen und den braunroten Flecken (es war doch braunrot gewesen?), dazu eine hellblaue Jeans, Folker würde in seinem Mandanten ohne jeden Zweifel seine Erscheinung in der Bibliothek beim ersten Besuchs in dem von Hohenholzheimschen Anwesen wiedererkennen. Aber so hatte er Bedenken. Er wunderte sich etwas über die Anstaltskleidung. Das Oberteil war weinrot, am Kragen waren vier kleine goldfarbene kreisrunde Anstecker angebracht. Auf der linken Brustseite war ein Symbol aufgenäht, dass irgendwie eine Blume erinnerte.

"Sir?", fragte da der Gegenstands Folkers Überlegungen in einer Stimme, die sich anhörte, als würde sie absichtlich tiefer gestellt. "Ich darf doch annehmen, dass Sie mich nicht aus der Zelle haben führen lassen, um mich anzusehen?"

Folker fasste sich wieder. "Nein, ich werde Sie verteidigen. Wie war noch gleich Ihr Name?"

"Anatol Setrok, Captain", erwiderte der Namentliche. "Und sie brauchen mich nicht zu verteidigen. Bald werde ich nicht mehr in diesem unangenehmen Zustand sein. Sie übrigens auch nicht."

Folker hob eine Augenbraue. "Wurden Sie bereits auf Drogen untersucht?"

Müde und erschöpft kam Folker in die Kanzlei zurück. Ihm kam ein Kollege entgegen, der ihn grüßte und allein im Büro zurückließ. Es war spät geworden. Vielleicht sollte er das Gericht doch ersuchen, Thomas als Pflichtverteidiger an seiner statt zu bestellen. Dass das Gespräch sonderlich viel gebracht hätte, konnte Folker nicht sagen. Sein Mandant hatte viel über Tee geredet und eine seltsame Adlige, die ihm etwas in denselben gegeben haben soll - oder war es Zahnpasta gewesen? Er würde sich nun die Nacht um die Ohren hauen, um den Schriftsatz zu verfassen. Beruhigt stellte er in der Herrentoilette fest, dass das Öffnen des Wasserhahns einen Erfolg bewirkte. Folker wusch sich das Gesicht und blickte in den Spiegel. Ja, es würde zu schaffen sein! In der kleinen Teeküche setzte sich der Teetrinker einen starken Kaffee auf. Er würde ihn brauchen können. Auf dass es eine Nacht ohne die Visionen des vergangenen Tages werde!

Um sieben Uhr am nächsten Morgen konnte Sutrikow endlich wieder sein Büro verlassen. Die Arbeit war geschafft und er auch. Nun wollte er nur noch nach Hause, um zu duschen. Ihn fröstelte. Aber für den kommenden Tag müsste er fit sein und vor allem die Verteidigung des Herrn Setrok ausarbeiten. Bevor er das Büro verließ, legte er noch die fertige Klageschrift samt einem Vermerk über die Adresse des Beklagten und das zuständige Gericht in das Postausgangsfach des Schreibbüros.

Eine Stunde später kehrte er etwas erfrischter in die Kanzlei zurück. Verwundert stellte er fest, dass die Tür seines Büros nicht mehr offenstand. Auf dem Weg hinein fing ihn die alte Chefsekretärin, die gute Seele der Kanzlei, ab.

"Herr Sutrikow", kündigte sie an. "Hauptkommissar Krewicz vom Morddezernat wartet seit ein paar Minuten auf Sie. Ich habe ihn gebeten, in Ihrem Büro Platz zu nehmen."

"Morddezernat?", rätselte der Angesprochene, mehr zu sich selbst. "Da scheinen sich im Fall Setrok doch andere Perspektiven aufzutun. Und das von einem Tag auf den anderen. Danke, Frau Sentmair."

"Für Sie doch immer, Herr Sutrikow!", witzelte sie. "Achja übrigens, ich habe Ihre Klageschrift auch schon abgeschickt." Sie rauschte ab, noch bevor er ihr ein weiteres "Dankeschön" nachrufen konnte.

Hauptkommissar Krewicz hatte bereits vor Folkers Schreibtisch Platz genommen. Seinen Mantel abzulegen, schien er jedoch nicht für nötig gehalten zu haben. Das beige Kleidungsstück, das den Beruf seines Trägers klar erkennen ließ und überdies belegte, dass dieser wohl nicht lange bleiben würde, verbreitete den ungemütlichen Charme eines Polizeibüros.

"Herr Sutrikow!", begrüßte der Kriminalbeamte den Anwalt. "Ich hoffe, Sie verzeihen mir meine Bequemlichkeit, aber ganz ausgeschlafen bin ich noch nicht. Ich musste mich einfach setzen. Und Frau Sentmair erlaubte..."

Folker nickte freundlich. "Das geht schon in Ordnung, Herr Hauptkommissar ...."("Krewicz", ergänzte dieser) "Frau Sentmair berichtete außerdem, Sie seien vom Mordderzernat. Wurde die Anklage gegen meinen Mandanten erweitert - über Nacht?"

"Wenn es nur das wäre, Herr Sutrikow", antwortete der Polizist in bedauerndem Ton. "Herr Setrok wurde heute morgen beim Wecken tot in seiner Zelle aufgefunden."

"Oh!", nun setzte sich auch Folker. "Ursache?"

"Der Tod ist formfrei möglich, ohne Einhaltung von Fristen, um mit Ihnen zu sprechen, Herr Sutrikow", sprach der Hauptkommissar. "Auch eine Begründung ist nicht zwingend notwendig. Die inzwischen durchgeführte Obduktion -die Anstalt weckt recht früh, wissen Sie- ergab nichts, rein gar nichts. So wurde das Morddezernat eingeschaltet. Wir können nicht Mord, nicht Selbstmord, nicht Unfall ausschließen. Keine Wunden -auch nicht am Hals, bevor Sie das fragen-, keine Spur von Gift, keine Druckstellen."

"Was mich aber etwas verwundert: Ist inzwischen üblich, dass der Verteidiger zuerst über so etwas informiert wird?", setzte Sutrikow wieder ein.

"Oh, Sie haben natürlich ein Interesse daran zu wissen, dass Sie von ihrem Pflichtmandat entbunden sind", berichtete Krewicz. "Ich komme allerdings auch zu Ihnen, weil es gewisse Verbindungen zu ihrer anderen Mandantin, Frau von Hohenholzheim, gab. Vielleicht auch zu dem Fall, den Sie bearbeiten sollen."

"Sie werden verstehen, dass ich Ihnen darüber keine Auskünfte geben kann", wies Folker ab. Er fragte sich, ob er sein Erschrecken wirksam verbarg.

"Das ist schade, aber verständlich." Hauptkommissar Krewicz erhob sich, weil sein Mobiltelefon klingelte.

"Die Leiche ist verschwunden!", berichtete der Polizist nach dem Telefonat. "Wie vom Erdboden verschluckt. Aber endlich hatte man etwas in den Haarproben feststellen können. Ein seltsames Rauschgift, ähnelt Koffein. Wir kennen seine Wirkungen nicht. Eigentlich interessierte mich auch nur, ob Sie die Verteidigung übernehmen würden, wenn wir Frau von Hohenholzheim festnehmen."

"Dazu muss es nicht kommen", sagte Folker trocken.

"Wir werden sehen Ihre Reaktion war mir schon einiges wert.", meinte Krewicz nur und reichte die Hand. Schon hatte er das Büro verlassen, als er nochmals erschien. "Eines noch, Herr Sutrikow: Wussten Sie, dass Rüdiger von Hohenholzheim das Familienschloss verkauft hatte, um von dem Erlös das neue Grundstück zu kaufen? Seine Schwester durfte nicht dort einziehen, um seine Inspirationen nicht zu stören. Obwohl sie das alte Familienheim schon seit Jahren nicht betreten hatte, muss sie das Verbot, in das erworbene Schlösschen zu ziehen, doch sehr verdrossen haben."

Folker staunte und erkundigte sich nach den Quellen dieser Offenbarung. Der Polizeibeamte wandte sich mit einem Lächeln und den Worten, er habe da seine Informanten, um und verließ das Büro.

Als Hauptkommissar Krewicz gegangen war, zog sich Folker eilig seinen Mantel über und verließ das Büro mit der Anweisung, alle Termine abzusagen. Vor der Kanzlei schwang er sich auf sein Fahrrad und fuhr zum Stadtrand. Frau von Hohenholzheim würde noch beim Frühstück sein. Sie hatte etwas von einem späteren Dienstbeginn erzählt. Sein Fahrrad lehnte er an die stilvolle Treppe vor dem Gebäude, wollte auf die Klingel drücken.

Bevor er die Klingel mit zitternden Händen drücken konnte, wurde ihm auch schon geöffnet. Verena Birkhamm, mit Hut und Mantel bekleidet, trat ins Freie und schien sich ob seiner Anwesenheit wenig zu wundern. Er käme früh, sei ja wie sie schon ein "faktischer Bewohner" des Gemäuers. Sie selbst habe die ganze Nacht in den Büchersälen verbracht, um in Erinnerungen zu schwelgen, daneben noch Anrufe der Polizei beantworten müssen. Nun brauche sie von Belletristik und Jurisprudenz etwas Abstand sowie frische Luft. Er könne Elisabeth im Speisesaal finden.

In dem geräumigen Speisesaal fand er dann wirklich Frau von Hohenholzheim beim Frühstück. Sie erkannte ihn, schien etwas verwundert und winkte ihn zu sich. Er nahm ihr gegenüber Platz.

"Guten Morgen, Herr Sutrikow!", begrüßte sie ihn, etwas verschlafen. "Sie stürzen sich ja früh in die Arbeit. Unsere Bibliothek steht Ihnen zur Verfügung, das wissen Sie ja."

Sie goss ihm einen Tee ein.

"Anatol Setrok ist tot!", rief Folker. "Er wurde heute früh aufgefunden. Seine Leiche ist verschwunden!"

Elisabeth von Hohenholzheim zeigte keine Regungen, schob ihm die Teetasse zu. "Sie wollen mich doch nicht anregen, einen Bericht darüber zu schreiben?"

"Hauptkommissar Krewicz war gerade bei mir!", schrie Folker weiter, schon leicht außer Atem. "Man verdächtigt Sie! Sie sollen ihn getötet haben. Sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist!"

"So beruhigen Sie sich doch", beschwichtigte Elisabeth. "Nehmen Sie einen Schluck Tee."

Folker stieg der wohlige Geruch des heißen Getränks in die Nase. Mit immer noch zitternden Händen nahm er die Tasse. Als er einen Schluck genommen hatte, erschrak er jedoch. Alles wurde ihm klar. Er setzte die Tasse mit einem Poltern wieder auf die Untertasse und spie den Tee aus. Leise wurde er, diesen Verstoß gegen sein Benimm bedauernd. Warum sollte sie auch vergiften, was sie selbst trank?

"Sie waren es von Anfang an!", sagte er vor sich hin. "Auch bei Ihrem Bruder wurden keine Spuren des Gifts im Gewebe gefunden. Er halluzinierte und sah Geister, genau wie Herr Setrok. Sie wollten, dass ich vor Gericht Ihren Anspruch durchsetze, damit der Verdacht auf irgendwelchen Gespensterfurcht fallen sollte und nicht auf Sie."

Elisabeth nickte mit selbstbeschuldigendem Blick. "Anatol hatte mir diese Droge besorgt. Er kannte die Bezugsquellen, nur ich jedoch kannte die Wirkung. Sie erzeugt die schönsten Halluzinationen. Der Rauschzustand klingt sauber wieder ab, ohne dass das Gift feststellbar wäre oder auch nur ein Kater spürbar wäre. Und der Arme lebt noch lange genug, um seine Visionen auszusagen. Zumindest in der Theorie."

Folker schreckte auf. "Also auch ich?"

Elisabeth nickte. "Der Tod ist leider unvermeidbar, aber eine unerwünschte Nebenfolge in Ihrem Fall. Und die Rauschzustände waren nötig, um Sie zu überzeugen. Warum Anatol Setrok allerdings so früh dahinschied, ist mir nicht ganz klar. Lag vielleicht an gastronomischen Unzulänglichkeiten des deutschen Strafvollzugs oder an dem Wassermangel von gestern. Normalerweise dauert es Jahre, bis der Tod eintritt, von der Geschwindigkeit an die Jurisdiktion also durchaus angeglichen. Ich hatte den vertrauensseligen Teeliebhaber eigentlich als Zeugen vorgesehen."

"Also muss auch ich sterben", trauerte Folker. "Nur wann?"

"Oh, eigentlich hatte ich erst nach dem Prozess mit Ihrem Ende gerechnet", berichtete Elisabeth und zog eine Spritze aus ihrer Tasche. "Aber nach dieser Wendung der Geschehnisse.... Auch höhere Dosen lassen sich nicht nachweisen, müssen Sie wissen. Entschlafen Sie gut!"

Damit stand sie auf. Folker stieß mit seinem ungestümen Aufstehen fast den Tisch um. Die Panik schien im Flügel zu verleihen. Im nu hatte er die Tür passiert, war auf seinem Fahrrad. Sie brach die Verfolgung ab.

Vollkommen erschöpft kam Folker in der Kanzlei an. Er musste seine Kollegen informieren. Aber durfte er so etwas überhaupt? Die Begrüßungen seiner Kollegen bekam er nur sehr dumpf mit. Ihm fiel auf, dass eine seiner Kolleginnen sehr auffallend rot geschminkt war. Nein, es war braun. Oder doch eher grün? Folker zog seinen Hut und ging weiter. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass so weiche Teppiche verlegt worden waren. Und so schön blau! Sie leuchteten freundlich. Thomas schwebte an ihm vorbei und gurrte irgendetwas. Oh, man hatte die Tür zu seinem Büro gelb gestrichen. Folker ging hindurch. Er hüpfte. Warum sollte er nicht ein wenig abheben und den Rest des Wegs fliegen? Die nette Gärtnerin saß im Besuchersessel. Er setzte sich schwungvoll in seinen Sessel und lächelte sie an.

"Herr Sutrikow!", rief Dr. Fischer. "So sagen Sie doch etwas!"

Frau Sentmair war hinzugestoßen.

"Ich wollte ihn zur Rede stellen wegen seines Falles", berichtete Dr. Fischer mit kraftloser Stimme. "Er ist in seinen Sessel gefallen, murmelte etwas über Wasser und hat dabei so seltsam gelächelt"

"Der Krankenwagen kommt gleich", teilte Frau Sentmair mit und versuchte, dabei ermutigend zu klingen.


VII. finis rei attendus est

"von Hohenholzheim", meldete sich ebendiese in den Telefonhörer. "Wer? Ach, Frau Sentmair, jetzt erinnere ich mich. Guten Abend! Nett, dass Sie anrufen. Herr Sutrikow - er ist was?"

"Herr Sutrikow ist gestern vormittag verstorben", tönte es aus dem Apparat. "Wir wissen, dass ihm Ihr Mandat sehr viel bedeutete. Daher möchten wir Ihnen mitteilen, dass Herr Thomas Hofbauer es übernehmen wird, wenn es Ihnen recht ist. Er sagte, er hätte bereits das Vergnügen mit Ihnen gehabt."

"Ja", sagte Elisabeth und versuchte betroffen zu klingen. "Das ist richtig. Oh, mein Gott, das ist ja schrecklich! Mein Beileid!"

"Danke, Frau von Hohenholzheim", ließ das Telefon verlauten. "Wir werden übermorgen für die Trauerfeier schließen. Danach wird sich Herr Hofbauer sicher mit Ihnen in Verbindung setzen."

"Ich bin ihm sehr dankbar dafür", freute sich Elisabeth, ohne dies groß zu zeigen. "Gerade, wenn man die Umstände bedenkt."

Sie verabschiedeten sich und legten auf. Elisabeth verspürte eine gewisse Erleichterung. Sutrikow konnte seine Erkenntnisse niemandem mehr berichten, trotzdem würde seine Arbeit erledigt werden.

Sie setzte sich, zufrieden über diesen Tag. Ihr Bericht über den verstorbenen Untersuchungshäftling hatte durchschlagende Erfolge. Sollte sie noch einen Artikel über dessen toten Pflichtverteidiger schreiben?

"Nein, das wäre zu auffällig!", hörte sie da eine Stimme, die ihr so verdächtig bekannt vorkam. Sie blickte sich im Raum um. Niemand war zu sehen. "Ehrlich gesagt, hielte ich das sogar für ausgesprochen töricht und dreist."

"Anatol Setrok!", rief Elisabeth in die Leere. "Wie ist das möglich?"

"Nun wohnst du schon einige Wochen hier...." Er tauchte vor ihr auf. "Und noch immer weißt du nicht, dass Mordopfer nicht ruhen? Du enttäuschst mich, Elisabeth!"

"Was machst du hier?", fragte Elisabeth kühl. "Gibt es nicht ausreichend Schlösser in Schottland?"

"Ich wurde hergeschickt", antwortete der Tote etwas amüsiert. "Dein erbärmliches Leben soll ich dir zur Hölle machen. In deinen Träumen soll ich dir erscheinen - jede Nacht." Er grinste hämisch.

Sie sprang auf ihn. "Wie kannst du nur? Hast du nichts besseres zu tun?"

Er wich aus. "Oh, ich habe nun alle Zeit der Welt. Was sollte ich auch sonst tun, weiter für dich den Drogenkurier spielen? Die mir bevorstehende Tätigkeit ist zwar nicht einträglich, aber sie wird mir die Ewigkeit schon vertreiben. Und du kannst nichts dagegen tun."

"Das wirst du schon sehen!", drohte sie. "Ich werde schon Mittel und Wege finden!"

Anatol erschrak gespielt. "Was willst du tun? Mir einen Pflock durchs Herz stoßen? Mir einen Tee anbieten? Ein Fluch? Polizei?"

Elisabeth blickte ratlos und ergriff endlich einen Spazierstock, dessen Spitze sie als Kind einmal mit einem Taschenmesser angespitzt hatte. Sie holte aus. Der Pfahl ging durch sein Herz wie Butter. Setrok griff nach ihm und schrie vor Schmerzen auf. Sein Gesicht verzog sich, das Leiden stand ihm in seine Züge geschrieben. Die Falten mehrten sich, die Augen vernebelten. Er alterte rasend schnell. Schon stand er als alter Mann vor ihr. Immer noch hielt er ihren Spazierstock fest in den Händen und wandt sich vor Schmerz. Kurz nachdem seine Haut bereits ledern und verwest, sein Haar spärlich und verfilzt und seine Gesichtszüge knöchern geworden waren, zerfiel er zu einem Haufen Asche.

Elisabeth hob erleichtert den Spazierstock wieder auf. Mit einem tiefen Seuftzer stellte sie ihn wieder an die Garderobe.

"Das war ein Spaß, Elisabeth!", hörte sie wieder eine bekannte Stimme. Sie erschrak. "Elisabeth, du kannst dir gar nicht vorstellen, was gerade passiert ist."

Verena schloss die Tür und ging auf Elisabeth zu. "Elisabeth, hörst du mir eigentlich zu? Was ist denn los mit dir?"

Frau von Hohenholzheim beruhigte sich wieder. "Nichts, nichts. Ich hatte einfach nur einen anstrengenden Tag."

"Du kannst so wunderschön lügen", hörte sie wieder eine männliche Stimme sagen.

"Wo bist du?", schrie sie.

"Ich bin hier, Elisabeth", antwortete Verena. "Mit dir ist doch irgendwas!"

"Nein, nein", entgegnete diese kurz angebunden in die Richtung ihrer Freundin. "Es ist nur ..... Ich habe gerade erfahren, dass Herr Sutrikow gestern gestorben ist."

"Oh ja, das ist wunderbar", hörte sie nun wieder aus einer anderen Richtung. "Warum hast du das nur getan? Er hat dich geliebt!"

"Übertreiben Sie nicht!", ließ sich nun eine weitere Stimme vernehmen. "Das habe ich nicht! Ich nehme nur das Verhältnis zwischen Anwalt und Mandant sehr ernst. Ich würde niemals mehr für eine Frau empfinden, die mich umbringt."

"Sutrikow?", fragte Elisabeth mit einem leichten Ton der Verzweiflung in der Stimme.

"Ja, Sutrikow", fiel nun wieder Verena ein, ratlos und besorgt. "Das sagtest du gerade, Elisabeth. Du solltest dich etwas hinlegen. So etwas ist nicht leicht zu verkraften."

"Werden Sie mich auch in den Träumen verfolgen?", Elisabeths Stimme verließ langsam die Kraft.

"Oh nein", hörte sie nun wieder ihren Anwalt sagen. "Mir fehlen die theatralischen Fähigkeiten dazu."

"Ich wollte doch nur das Haus!", schrie Elisabeth nun und fing an zu rennen. "Mich zuhause zu fühlen in einem familiären Umfeld!"

"Oh, ich freue mich schon auf heute nacht", sagte nun wieder Anatol. "Man sagt, geträumter Tod ist echter Tod, weißt du das? Wo rennst du denn hin?"

"Nur weg von diesem Grundstück!", keuchte von Hohenholzheim im Rennen. Ihre hohen Absätze hielten ihr höhere Geschwindigkeiten vor. Sie zog sie aus. Durch die Tür. Barfuß über den Kiesweg vor dem Schlösschen. Ihre Füße schmerzten schon jetzt.

"Du kannst mir nicht entkommen, Betti!", säuselte Anatols Stimme hinter ihr. Es war ihr, als fühlte sie seinen feuchtkalten Atem im Nacken. Sie musste einen schnelleren Weg nehmen! An der Straße würde sie schon jemanden finden, der sie mitnahm. Also barfuß durch die Wiesen. Tritt auf einen Stein. Tritt auf eine Scherbe. Doch sie spürte keinen Schmerz. Nur den Atem im Nacken. Nur die diffamierende Stimme ihres Verfolgers. Schon war der Weg ins Tal geschafft, die Bundesstraße erreicht. Der Abendverkehr hatte nachgelassen. Nur einen LKW sah sie kommen. Sie winkte. Der Transporter verlangsamte nicht. Elisabeth verzweifelte. Mit einem gewagten Satz sprang sie, als der LKW auf gleicher Höhe war, an die Beifahrerseite, um auf das Trittbrett zu gelangen. An einer der Stufen, die zur Beifahrertür führten, konnte sie sich festhalten. Vorsichtig setzte sie einen Fuß auf die unterste Sprosse. Sie übersah die Kurve. Schwer überrollten sie die Reifen des MAN.

In der Fahrerkabine merkte man keine Erschütterung. Der Fahrer umgriff das Lenkrad und verspürte leichte Vorfreude auf das Ziel seines Transports. In einer halben Stunde würde er seine Ladung abgeliefert haben und konnte für diese Woche wieder zuhause einkehren. Blick auf die Straße gerichtet. Mit Verwunderung bemerkte er die junge Frau auf dem Beifahrersitz, die ihn vorwurfsvoll ansah.

"Sie haben mich überfahren", sprach sie ihn an. "Dann sind Sie einfach weitergefahren. Fahrerflucht ist strafbar, wissen Sie das?"


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