Schriftzug:curiositates vitae

Genitiv

"Sie hat ja keine Ahnung", dachte er bei sich. Der Septemberwind wand sich durch sein dunkles Haar, nass durch Schweiß und Regen. Der frühe Herbst zerzauste auch Susannes langes Haar, als sie sich unter ihrem Baum umarmten, außer Atem, des langen Laufens wegen. Das Blut schoß ihnen immer noch in den Kopf; ihnen war viel zu heiß, als daß sie frieren könnten. Sie umschlangen sich noch enger. "Ich habe es ihm immer noch nicht gesagt", dachte nun auch sie, als Robert ihr tief in die Augen blickte. Wie vertraut war ihr doch das Strahlen seiner stahlblauen Iris. Sie schlossen die Augen und küssten sich. Es durchfuhr sie eiskalt, als sich ihre Lippen berührten, und das schlechte Gewissen beider war für den Rest des Abends vergessen. Minuten später ließ er kurz ab und betrachtete sie. Wie vertraut war ihm doch dieser Anblick, wie oft hatte er sie doch schon mit den Augen verschlungen, in den vielen Jahren, in denen er schon mit ihr verheiratet war. Ihr einst pechschwarzes Haar zeigte schon die ersten weißen Strähnen, vereinzelt, kaum zu sehen. Doch ihr Lächeln verzauberte ihn wie am ersten Tag. Sie umschlang mit ihren schlanken Armen seinen kräftigen Oberkörper, der wie die Ärmel ihres knöchellangen Abendkleides durchnässt war, triefend nass trotz der Jacken die sie getragen hatten und nun ablegten. Wiederum schlossen sie ihre Lider und ließen ihre Lippen sich berühren.

Am nächsten Morgen wachte Robert mit einem Lächeln auf - und mit einem Schnupfen. Verschlafen blickte er um sich. Noch immer schlief sie. Die süßen Träume, die sie hatte, sah er ihr an der Nasenspitze an, las er in ihren (obwohl geschlossenen) Augen und spürte er in ihrem Lächeln. 'Wie schafft sie es bloß, bei dem Lärm meines Weckers nicht wach zu werden?' Er beneidete sie insgeheim. Doch was für ein schreckliches Gefühl musste es wohl sein, alleine zu erwachen? Bei dem Gedanken erschauderte es ihn. Er stand auf und tastete nach dem Weg zum Bad. Es war 6.04 Uhr.

"Bombenanschlag auf Imbissbude" war in der Lokalpresse zu lesen, in mannsgroßen Lettern neben einem fast lebensgroßen Bild, welches den abgebrannten Stumpf von "Kalle's Pommes" zeigte. Robert seufzte. Noch immer hatte die Polizei keine Spur von dem Serientäter, der in den letzten drei Monaten fast zehn kleine Geschäfte so oder so ähnlich zugerichtet hatte. Der "Würstelmörder", so wurde der große Unbekannte genannt, obschon bei keinem der bisherigen Anschlägen irgendeine Person zu Schaden gekommen war. Die Presse spekulierte öffentlich über diesen Täter, ob es ein religiöser Fanatiker sein könnte? Dann führte der Redakteur auf, daß in fast allen dieser kleinen Betriebe Schweinefleisch verkauft wurde. Auch ein Verrückter, der sich von Pommes Frites im verdorbenen Öl schon mal eine Magenverstimmung geholt haben könnte und deshalb eine Wut auf alle Imbissbuden haben sollte, wurde als Beispiel genannt. Robert schüttelte den Kopf, faltete die Zeitung zusammen, platzierte sie auf den verbliebenen Krümeln seines Frühstücksbrötchens und stand auf, um sich auf den Weg zur Arbeit zu machen. Er ging zurück ins Schlafzimmer, gab seiner Frau einen Kuss zum Abschied und verließ das Haus.

Wie jeden Morgen nahm er einen Weg, der ihn durch einige Seitengassen führte. Er eilte nicht, der Weg war nicht lang. Sein Blick fiel auf eine Bäckerei auf der anderen Straßenseite. Eine Verkäuferin schien ihn anzublicken, zu beobachten. Dies verwirrte ihn ein wenig. Er lächelte in ihre Richtung, freundlich grüßend, unbestimmt, verwundert. Sie lächelte zurück, erleichtert, und wandte ihren Blick wieder ab. Roberts Blick fiel auf das Schild über der Bäckerei. Missbilligend beschloss er, es zu übersehen. Er setzte seinen Weg fort.

Pünktlich um sieben, wie er es jeden Morgen tat, betrat er das Rathaus. Freundlich, wie er es immer pflegte, grüßte er seine entgegenkommenden Kollegen. Um 7:03 Uhr, um dieselbe Zeit wie jeden Morgen, öffnete er die Tür zum städtischen Bauamt. Sie war nicht verschlossen. Das hätte er auch nicht erwartet. Eine Woge Kaffeedufts flog ihm entgegen. Zu dumm, er wußte doch, dass er etwas vergessen hatte. "Guten Morgen", lächelte ihm Frau Maier entgegen, "eigentlich wären Sie ja heute mit dem Kaffeekochen dran gewesen." - "Ich bekenne mich schuldig", antwortete Robert mit einem charmanten Schmunzeln und präsentierte etwas aus seiner Aktentasche, "dafür habe ich frisches Milchpulver mitgebracht." - "Das rettet Ihnen das Leben," flüsterte Frau Maier, erhob ihren Zeigefinger und sprach mit normaler Lautstärke weiter, "aber es wird Sie nicht davor bewahren, die nächsten beiden Male die Viertelstunde früher hier zu sein." Es war 7:05 Uhr. Er schenkte sich Kaffee ein. Dann setzte er sich. Der Dienst begann um 7:15 Uhr. Frau Maier nahm ihren Löffel und wirbelte damit in ihrem Morgengetränk herum. Sie legte ihn wieder nieder und prostete Robert zu. 'Wie unpassend bei einem solchen Getränk,' dachte Robert bei sich, schämte sich dieses Gedanken jedoch gleich wieder und tat es seiner Gegenüber gleich.

Susanne frühstückte später in aller Ruhe. Sie biss herzhaft in ihre Marmeladenbrötchenhälfte. Dann nippte sie etwas an ihrem Tee. Die Morgenzeitung erregte ihr Interesse. Aber es stand nichts Neues darin, nichts von irgendeiner Wichtigkeit. Die übliche Räuberpistole halt. Die Polizei tappte immer noch im Dunkeln, was die Anschlagserie auf die Imbissbuden betraf. Susanne fragte sich, wie lange das noch so weiter gehen sollte. Daneben fand sich noch die jährliche Sitzung des Kaninchenzüchtervereins im Lokalteil wieder. Sie schenkte sich Tee nach, dann sah sie auf ihre Armbanduhr. Es war noch genug Zeit.

Ein Niesen ließ Roberts Nasenflügel erbeben und befeuchtete das Papiertaschentuch in seiner Hand.

"Gesundheit", wünschte ihm Frau Maier, die kurz aus ihren Akten aufsah, um sofort wieder in sie zu versinken, "sie haben sich wohl erkältet. Ist ja auch kein Wunder bei dem Wetter. Besonders gestern abend war es schrecklich, nicht wahr? Dabei hatte doch am Mittag so schön die Sonne geschienen, nicht wahr?"

Robert nickte und nieste nochmals. "Ich gehe mir wohl besser mal einen Tee holen", näselte er, bevor er durch die Bürotür verschwand. Es war 9:03 Uhr.

"Passen sie auf, daß sie nicht gesehen werden", rief ihm Frau Maier nach.

Die Straße wirkte leer und verlassen, als Susanne den Obmannweg entlang ging. Der Wind spielte sanft mit ihrem Haar und färbte ihre Wangen in einem leichten Rot. Sie passierte einige geschlossene Witschaften und schlich nach der Kreuzung Weidenallee am Rathaus vorbei. "Hoffentlich sieht er mich nicht", schoss es ihr durch den Kopf.

Robert sah sie nicht. Durch die Fenster des Bauamtes konnte er nur auf eine andere Straße sehen, der Obmannweg oder die Weidenallee enthielten sich seinen Blicken. Momentan blickte er aus gar keinem Fenster, sondern in seinen Schrank im Nebenraum. Er entnahm einen Lederkoffer und verließ leise das Zimmer. Der Flur war dunkel und menschenleer. Um diese Zeit verirrte sich selten ein Besucher in diesen Teil des Rathauses. Durch ein abseits gelegenes Treppenhaus verließ er das Gebäude. In der einsamen Seitengasse war keiner zu sehen. Er zog sich die Kapuze über den Kopf und schritt schnellen Fußes auf die kleine, schmutzig weiße Imbißbude zu. "Birgi's Imbiss" verkündete das Schild, das auf ihrem Dach thronte. Der Imbiss hatte geschlossen. Robert seufzte. Er stellte seinen Koffer ab. Es war 9:15 Uhr.

Erna Krause öffnete die Tür. Die leicht grauhaarige Dame sah Susanne mit einem breiten Lächeln an. "Ah, Susanne, schön dass sie da sind", begrüßte sie ihren Gegenüber, "kommen sie, nur herein."

Susanne tat, wie ihr geheißen.

"Wie geht es ihrem Mann?" wollte die GastwirtinKrause wissen.

"Gut," meinte Susanne. "Nur glaube ich, dass ihn diese...." - sie nieste. ".... Erkältung auch erwischt hat."

"Gesundheit," wünschte Erna Krause.

Susanne dankte. 9:25 Uhr.

Robert war zurück an seinem Schreibtisch. Er blickte aus seinem Fenster auf die Paulsstraße. Doch außer einer trägen Katze, die auf dem Vorsprung entlang lief, gab es dort nichts zu sehen. Im nächsten Moment war Robert wieder angestrengt in seine Baurechtsnovelle vertieft, in die er sich einarbeiten musste.

Frau Maier unterbrach ihr Studium einer Akte über ein Grundstück in Bahnhofsnähe. "Wissen sie eigentlich, dass es in Island keine Eisenbahn gibt?" fragte sie.

Robert sah verstört auf. "Bitte?"

"Eisenbahnen. Es gibt keine in Island," erwiderte Frau Maier.

Robert nickte. "Aha."

"Sie halten nichts von diesem nutzlosen Wissen, ich vergaß," Frau Maier wagte einen neuen Anlauf, während Robert erneut nickte - geistesabwesend.

"Doch sehen sie, wenn ihnen in Island jemand eine Zugfahrkarte verkaufen möchte, wissen sie, dass sie lieber die Polizei rufen sollten, sie möge doch diesen Betrüger festnehmen."

Robert schmunzelte. "Wie sie schon bemerkten, ich glaube nicht, dass mit einer Ansammlung dieses Wissen etwas zu gewinnen wäre."

"Vielleicht doch," triumphierte Frau Maier. "Zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr ins Büro lächeln sie wieder."

Dem wusste Robert nichts entgegenzusetzen. Es war 9:45 Uhr.

Susanne hatte sich inzwischen umgezogen. Die schwarz-weiße Kellnerinnentracht stand ihr gut, wie sie fand und Robert in diesem Moment sicherlich zu bemerken gewusst hätte. Während dieser Gedanke Susanne noch gefiel, betrat Herr Wittbach die Gaststätte. Wie jeden Morgen wollte er sein zweites Frühstück einnehmen.

"Ach wissen sie," hatte er einmal gesagt und dabei über sein fast kreisrundes Gesicht gelächelt. "Wenn ich morgens zur S-Bahn muss, bin ich doch fast noch gar nicht aufgestanden, geschweige denn aufgewacht. Und schon gar nicht bin ich satt. Da schätze ich doch dieses gemütliche kleine Lokal, einen gemütlichen Tisch mit einem gemütlichen Stuhl davor und einem gemütlichen Frühstück darauf." Dann hatte er wieder seinen gemütlichen Gesichtausdruck aufgesetzt und eben ein solches Frühstück bestellt. Er war einer von Robert Arbeitskollegen.

"Wann kann ich denn den Robert einmal mitbrigen?" fragte er an diesem Morgen, nachdem er seinen üblichen Kaffee und die Brötchen sowie das Croissant geordert hatte.

"Oh bitte noch nicht," erwiderte Susanne, der die Frage nicht neu war. "Sie wissen doch, was er über Gaststätten denkt."

"Da ahnt er halt nicht, was ihm entgeht, Frau Hertzbach," meinte Herr Wittbach, und Susanne las erleichtert in seinen Mundwinkeln, dass ihm das Frühstück nun wichtiger war als weitere Fragen. Fünf Minuten später stand es auf seinem Tisch. Es war 10 Uhr.

Um 11 Uhr sah Robert wieder aus dem Fenster. Er bemerkte wieder diese Katze. 'Fettes Vieh', dachte er bei sich. Irgendwann einmal hatte er gesehen, wie Oskar Wittbach, ein Kollege aus dem Ordnungsamt, mit dem er schon einige Male gemeinsam mittags die Kantine aufgesucht hatte, einen Futternapf herausgestellt hatte. Damals hatte sich Robert gewundert, warum. 'So eine Katze könnte doch selbst ihre Nahrung verdienen', dachte er jetzt. 'Mäuse fangen macht auch satt.' Er stellte sich vor, wie die Katze - mit einem lauten Knall - platzte und musste grinsen. Fellteile wirbelten in einem Kopf auf. Er lauschte zufrieden dem gequälten "Miau". Dann erschrak er.

Die Tür war geöffnet worden, und Herr Wittbach hatte das Zimmer betreten und mit seiner vollen Bassstimme ein "Guten Morgen!" verkündet.

"Robert, hast Du schon das Neueste mitbekommen?"

"Das Neueste?" fragte Robert.

"Ja, dieser Imbissmörder - so nennt ihn die Presse, ich halte das für falsch - hat wieder zugeschlagen", fuhr Wittbach eifrig fort.

Robert horchte auf - entsetzt.

"Eben wurde gemeldet, dass erneut eine von diesen Imbissbuden gesprengt wurde."

"Ich habe darüber heute morgen etwas in der Zeitung gelesen, 'Kalle's Pommes', nicht wahr, hieß es", wollte nun Robert wissen.

"Nein, nein, schon wieder einen. Ich habe es gerade erfahren als ich wiederkam von ....", Wittbach stockte. Beinahe hätte er zuviel gesagt.

Robert horchte auf. Frau Maier schob die rechte Augenbraue hoch.

Oskar Wittbachs Gesicht errötete, er senkte den Blick. ".... der Toilette." Er versuchte abzulenken: "Robert, wann wolltest Du heute zu Tisch?"

"Ein Uhr, wie immer", atwortete Robert verwundert.

"Wir sehen uns", verabschiedete sich Herr Wittbach und verschwand.

"Was denkt er denn über Gaststätten?" Eine fordernde Neugierde schwang in Ernas Stimme.

"Wer... Ach, mein Mann." Susanne blickte von den Gläsern im Spülbecken auf, in dem sie förmlich versunken war. "Es ist mir ein Rätsel", berichtete sie, während sie einen Pilspokal säuberte. "Wissen Sie, einst gingen wir an einem richtig schönen Restaurant vorbei. Wissen Sie, so eins mit einer richtig netten Einrichtung - oh, diese Tischtücher und diese Kerzen! - Dort hätte ich gerne unseren 15. Hochzeitstag verbracht."

"Sie geraten ja richtig ins Schwärmen. Aber machen Sie es nicht zu spannend!" Erna Krause schmunzelte, aber Ungeduld war ihr deutlich anzumerken.

Susanne war wie aus einem Traum aufgeschreckt. "Jedenfalls sah er die Karte an. Er sah sie lange an. Für einen kurzen Augenblick lächelte er. Dann blickte er so seltsam missbilligend. Für unseren Hochzeitstag haben wir dann einen Partyservice bestellt und eins von diesen Fachwerk-Bauernhäuser gemietet. Warum er nicht in das Restaurant gehen wollte, hat er nie gesagt."

Erna Krause sah Susanne verwundert an. "Haben Sie ihn danach nie wieder von den Vorzügen der Gastronomie zu überzeugen versucht?"

"Mehrmals. Doch - ich weiß nicht, was er gegen diese Lokale hat. Einige besucht er ganz gern. Wonach er sortiert, ist mir schleierhaft." Sie blickte um, durch die Fenster der Tür. "Kundschaft", sagte sie nüchtern, erleichtert. 12 Uhr.

"Was darf's denn sein?" fragte die Dame hinter der Theke. Es war 13:01 Uhr. Das Angebot der Rathauskantine war einmal mehr wenig verlockend. Robert mustertete kritisch die Fischpfanne, preislich ein Schnäppchen. Vor der Fischpfanne wurden immer die Neuangestellten gewarnt. Jeder Neue missachtete die Warnung jedoch - allerdings nur einmal. Robert hatte sie einmal ignoriert. Danach war ihm den ganzen Nachmittag lang schlecht gewesen. In gewisser Weise war das Essen der Fischpfanne ein Aufnahmeritual, zu dem man nicht gezwungen wurde, sondern sich selbst zwang. Erst dann gehörte man "dazu".

"Einmal Käsespätzle und Gemüse bitte, Frau Huber", bestellte er stattdessen.

"Für mich auch bitte", hörte er hinter sich. Es war Herr Wittbach.

"Eine gute Wahl, Oskar", meinte Robert mit einem hämischen Grinsen. Da saßen sie jedoch schon an einem Tisch außer Hörweite der Theke.

"Ich habe meine Lektion gelernt, Robert", seufzte Oskar Wittbach wehleidig. "Seit letzter Woche wollte ich schon nicht mehr zum Essen herkommen. Ich war einige Male zum Mittagstisch woanders."

"Aha", meinte Robert. "Wo denn?"

Oskar merkte, dass er schon zuviel erzählt hatte und schwieg betreten. Jetzt musste er bloß vom Thema ablenken. "In 'Erna's Kneipe'", stieß er hervor und wünschte sich, dass damit das Thema gegessen war.

Doch Robert horchte auf. "Die kenne ich gar nicht. Wo ist sie?"

Er blickte verwundert, als er sah, dass Oskar Wittbach langsam ins Schwitzen geriet. Ihm war Roberts fordernder Blick nicht ganz geheuer, dieses Blitzen in den Augen. Mit irgendetwas musste er einen wunden Punkt bei seinem Kollegen Hertzbach getroffen haben.

"Och, ganz hier in der Nähe", brachte er dann hervor, gabelte einige Spätzle auf und schob sie sich in den Mund. Er freute sich, dass auch nach dem Essen die Diskussion nicht wieder aufkam. Dennoch wunderten sie sich - ein jeder über das Verhalten des Anderen. Es war 13:25 Uhr.

Um halb zwei betrat Robert wieder sein Büro. Frau Maiers Platz war leer. Sie trug gerade Akten aus. Das Telefon klingelte. Schon von der Tür hatte er es läuten hören. Als er den Hörer von der Gabel genommen hatte, war der Anruf jedoch schon weg.

Robert setzte sich. Er dachte nach. Ob er nach Feierabend einmal bei dieser Kneipe vorbeigehen sollte? Um 16:15 würde sein Dienst vorbei sein. Susanne würde bei ihrem Kochkreis sein, was auch immer das sei. Bis 17 Uhr wäre die Kneipe wohl geschlossen. Er könnte ja einfach mal vorbeigehen.

Frau Maier öffnete die Tür und trat ein. "Nur noch drei Stunden bis Feierabend", freute sie sich. "Ach, noch nicht einmal. Und die meiste Arbeit für heute habe ich auch schon erledigt."

"Ich habe auch nur noch ein paar Akten", entgegnete Robert, "das sollte ich schaffen. Die meiste Arbeit erledige ich am liebsten und am besten vormittags. - Das muss an ihrem Kaffee liegen", setzte er noch hinzu.

"Sie können mir schmeicheln wie Sie wollen", lächelte Frau Maier. "Morgen früh kochen Sie ihn!"

Robert versuchte, möglichst zerknirscht auszusehen. 13:40 Uhr.

"Sie können wirklich nach Hause gehen", bot Erna Krause an. "Wir öffnen erst wieder um sieben."

Susanne sah vom Spülbecken auf. "Schon in Ordnung. Mein Mann denkt, ich würde heute mit Freundinnen neue Kochrezepte ausprobieren."

"Naja", meinte Frau Krause. "Dann kann ich Sie aber mal für ein paar Minuten allein lassen. Ich möchte eben die Vormittagseinahmen zur Bank bringen."

Es war 16 Uhr. "Wenn Sie sich beeilen, dürften Sie noch jemanden antreffen."

Frau Krause zog sich ihren Mantel an, verabschiedete sich und zog die Tür hinter sich zu. Auf dem Weg zur Bank begegnete sie außer einem dunkel gekleideten Mann mit einem ebenso dunklen Aktenkoffer keiner Menschenseele. Sie wand den Kopf. Sein Gesicht und seine Statur gefielen ihr. Unbeirrt setzte sie jedoch den Weg fort, um dem Schalterschluss zuvorzukommen. Ein Blick auf ihre Armbanduhr, es war 16:10 Uhr.

Robert nutzte seine freie Zeit nach Feierabend für einen Stadtbummel. Auch wenn er sich eine Stunde dafür gönnte, würde noch genug Zeit übrig bleiben, die Küche und das Wohnzimmer aufzuräumen, eine Aufgabe, welche heute ihm zufiel, bevor Susanne heimkäme. Er kam an einem kleinen Imbiss vorbei, "Ahmeds Dönerschmiede". Das Geschäft war ihm sofort sympathisch. Er kaufte sich einen frischen Döner und genoss ihn auf seinem weiteren Weg Richtung Innenstadt. Es war 16:35 Uhr.

Susanne war wieder allein. Frau Krause wollte nach ihrem Gang zur Bank erst um sieben Uhr zurückkehren. Der Himmel hatte sich verdunkelt. Zudem regnete es, die Himmelsschleusen waren weit geöffnet. Doch sie war guter Dinge und freute sich, im Trockenen zu sein. Für den abendlichen Lokalbetrieb hatte Susanne schon die Spirituosen aus dem Keller heraufgeschafft und war dabei, diese in die Regale zu stellen. Die Gläser waren gespült. Gleich wollte sie den Boden wischen und die Tische abputzen. Dennoch hatte sie schon geglaubt, durch die kurze Zeit der Einsamkeit bereits Haluzinationen zu erliegen. Sie hatte für einen Augenblick geglaubt, Robert sei am Fenster vorbeigegangen und hätte sich vor davor gebückt, als wollte er etwas abstellen. Doch sie glaubte sich das selbst nicht. Robert würde nie so dunkle Sachen tragen, nie so ... heimlich gehen. Sie hatte sogar vor der Tür nachgesehen und nichts gefunden. Die Getränkeflaschen waren an Ort und Stelle. Susanne fing an, den Boden zu wischen. Es war 16:45 Uhr.

Robert genoss den Regen, der ihn an den vorangegangen Abend erinnerte. Die Regentropfen prallten an seinem schwarzen Mantel ab. Um 17 Uhr begann er, seinen Weg wieder an der von Oskar genannten Kneipe vorbeizulenken. Sein Koffer war noch gut verstaut, wie er feststellte, als er dort ankam. Das Lokal würde erst wieder um 19 Uhr öffnen. 'Oder auch nicht', dachte er, die Einstellung des Zeitzünders im Kopf. "Erna's Kneipe" würde es dann nicht mehr geben. Noch eine Minute, dann wäre es fünf nach fünf und der Inhalt des Koffers hätte sein übriges getan. Er wandte sich zu gehen. Da fiel ihm ein Schatten jenseits der Fensterscheibe auf. Das konnte nicht sein! Er war immer peinlich bemüht gewesen, dass nur Sachen, Gebäude und keine Menschen zu Schaden kamen. Was sollte er nun tun? Den Koffer unschädlich zu machen würde über eine Minute dauern. Dies könnte durch den Regen noch schwieriger werden. Nein, er musste die Personen aus dem Gebäude retten. Er ergriff die Türklinke, konnte die Tür jedoch nicht öffnen. Innerhalb des Raumes konnte er niemanden sehen. War dort wirklich jemand? Sollte er verschwinden und sich in Sicherheit bringen, anstatt imaginären Schatten hinterherzujagen? Er rüttelte an der Tür.

"Wir haben geschlossen!" Die Stimme aus dem Inneren kam Robert bekannt vor.

Robert hörte nicht auf. Langsam geriet er in Panik.

"Nun hören sie aber auf, kommen sie um sieben wieder!" Susanne trat aus einem Nebenraum in Roberts Sichtbereich. Sie erstarrte, als sie sein Gesicht hinter den Glasscheiben der Tür erkannte. "Robert!" Sie kramte die Schlüssel aus ihrer Schürzentasche., während Robert nicht nachließ. Er konnte kaum einen klaren Gedanken mehr fassen.

Als sie die Tür öffnete, stoppte er. "Susanne!" Seine Stimme klang erschöpft.

"Was in aller Welt hat dich dazu getrieben....", sie stockte. "Komm doch ersteinmal 'rein! Du bist ja ganz außer dir."

"Ja ..... nein .... ich.... wir müssen", brachte er heraus. Unwillkürlich tat er einen Schritt in die Kneipe.

Die Tür schloss sich hinter ihm - ungesehen von der äußeren Welt. Der Regen klopfte weiter an die großen Fenster der Gaststätte. Durch sie sah man Susanne Robert den nassen Mantel abnehmen. Dann ein lauter Knall. Die Fensterscheiben zersprangen. Flammen züngelten aus dem Kellerfenster und griffen auf die Holzfassade über. Zuerst trocknete das Holz zögerlich, nahm aber bald willig das Flammenmeer an, welches es überkam.

Als sich Robert wieder gefasst hatte, blickte er auf die Feuerwand, die sich des Ausgangs bemächtigt hatte. Er schaute in Susannes Augen, in denen sich deutlich der Schreck abzeichnete und Fassungslosigkeit.

"Es tut mir so leid....", stammelte er.

"Aber nein", versuchte Susanne abzuwehren. "Du bist ja fast rechtzeitig gekommen. Und wenn die Tür nicht abgeschlossen wäre.... Ich meine, du konntest ja nicht wissen...."

"Doch", Roberts Augen waren auf den Boden gerichtet. "Der Knall.... Das Feuer.... Ich war's...." Er hob den Kopf und wartete ihre Reaktion ab.

"Warum?" fragte sie nur nach einer Schrecksekunde. "Du.... ich...."

"Nicht deinetwegen", Robert nahm einen weiteren Anlauf. Er fasste sich wieder etwas. "Die ganzen Brandanschläge, die Imbissbuden. Der Genitiv...."

"Genitiv?" Susanne wurde lauter. Darauf wusste sie nun einfach nichts mehr zu entgegnen.

"Ja..... 'Kalle's Pommes', 'Erna's Kneipe'", er deutete mit einem Finger den Apostroph an. "Das sieht einfach schlimm aus. Es ist halt falsch. Der Genitiv wird ohne Apostroph geschrieben. Jahrelang bin ich an solchen Schildern immer tatenlos vorbeigegangen und habe mich leise geärgert. Dann fing ich an, solche Geschäfte nicht mehr zu besuchen. Und dann..."

Entsetzen zeigte sich in Susannes Augen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, ging sie einen Schritt zurück.

"Du ahnst ja nicht, wie leicht die Bomben zu besorgen waren", Robert meinte, dies fortsetzen zu müssen. "Niemand sollte zu persönlichem Schaden kommen. Und es klappte. Bis heute."

Susanne stand aufrecht. Sie wollte nur noch heraus dort. Weg. Das Feuer schien schon von außen auf den ersten Stock übergegriffen zu haben. Das Zersplittern der Glasscheibe war zu hören gewesen. Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben.

"Einen Feuerlöscher", Robert nutzte die Verwirrung, um das Thema zu wechseln. "Wo finde ich einen Feuerlöscher?"

Die Flammen hatten bereits vom hölzernen Parkettboden Besitz ergriffen. Der Boden musste irgendwie chemisch behandelt worden sein, so breitete sich das Feuer nur langsam aus. Dass das Inferno dennoch obsiegen würde, war jedoch absehbar. Stetig kam ihnen die Feuersbrunst entgegen. Ein Tisch nahe des Fensters brach krachend zusammen.

Susanne schreckte auf. Sie wies hinter die Theke. "Schau einmal unter der Spüle nach!"

Er nickte. Das Gebälk über ihm schien zu wanken und sich zu biegen. Doch es waren wohl nur Luftspiegelungen aufgrund der Hitze. Auch der Boden, der sich heiß unter Roberts Sohlen bemerkbar machte, mutete bei jedem Schritt seltsam wackelig an, doch es waren nur seine Knie, die die Last des Rumpfes nicht mehr lange zu halten gedachten. Er gelangte hinter die Theke und fand den Feuerlöscher. Es müsste doch reichen, so überlegte er, eine Passage zur Tür herzustellen, auf der sie schnell flüchten würden. Seine Knie gaben nach. Er sank zu Boden, raffte sich jedoch wieder auf, griff nach einer Flasche aus dem Regal und nahm einen tiefen Schluck von der goldbraunen Flüssigkeit darinnen. Besser. Seine Knie meldeten sich wieder, er hatte wieder Gefühl. Sie könnten es schaffen. Hinter der Theke konnte er nicht wieder hervorkommen. Ein Blick zu seiner Frau. "Susanne!" rief er. "Nimm mir bitte den Feuerlöscher ab."

Sie blickte zu ihm herüber, überlegend, wer er eigentlich war. Kannte sie ihn? Fünfzehn Jahre und länger hatte sie das geglaubt. War auch nur noch ein Funke von dem Robert in ihm, für den sie ihn all die Zeit gehalten hatte?

"Bitte", schallte es von der Theke. "wir müssen jetzt zusammenhalten."

Ihr Überlebenswille stellte sie fordernd vor alle moralischen Überlegungen. Sie ging zur Theke und nahm den Feuerlöscher an. Mit einem leicht gequälten Lächeln versuchte sie, ihren Willen zur Kooperation anzudeuten. Auf ein Zeichen hin ging sie einen Schritt zurück, damit er über die Theke springen konnte. Es gelang ihn mit einem fast eleganten Satz. Hinter sich hörte er, wie etwas in Flammen aufging. Er hatte die Flasche umgestoßen. Der Inhalt hatte sich schnell über die ganze Platte verteilt. Beide wichen sie von der Bar.

Er nahm den Feuerlöscher wieder an sich. Nach Inbetriebnahme des lebensrettenden Instruments gab er zuerst einen Teststoß über die Theke ab. Die Flammen gingen zurück. Er atmete kurz auf.

"Bleib dicht bei mir", bat er Susanne. Sie nickte stumm.

Er hantierte geschickt mit dem Gerät, so dass sie schnell an die Tür gelangten. Inzwischen hatte das Feuer auch auf Tische hinter ihnen übergegriffen. Über ihnen knirschte das Holz. Robert blickte entsetzt auf die Klinke. Sie musste glühendheiß sein. Mit dem Feuerlöscher versuchte er, sie herunterzudrücken. Sie klemmte. Roberts Adrenalinspiegel verbat ihm, lange darüber nachzudenken. Der rote Behälter in seinen Händen, der sie beide bis zur Tür gebracht hatte, schien aus stabilem Metall gefertigt zu sein. Die Tür hingegen war aus Holz, wenn auch auch aus massiver Eiche.

Das Fensterglas in der Tür war ob der Hitze längst zersprungen. Robert spannte die Arme an und rammte den Feuerlöscher mit aller verbliebenen Kraft gegen das Holz. Er fühlte, wie es nachgab. Beim nächsten Stoß gebrauchte er all seine Kraftreserven. Die Tür zerbarst. Robert fiel nach vorn. Schleppend fing er sich wieder. Nach einem besorgniserregenden Klang von knirrschendem Eichenholz fiel sein Blick nach oben. Auch der Türrahmen gab nach.

"Lauf, Susanne", rief Robert Hertzbach mit erstickender Stimme.

Es war 17:13 Uhr.


© 1998/1999- by Peter Felix Schuster, kommerzielle Nutzung untersagt. Veröffentlichung und Verbreitung vorbehalten. Diese kuriose Kurzgeschichte darf nur mit Nennung des Autors Peter Schuster und nach Rücksprache mit ihm - unentgeltlich und unverändert - vertrieben werden. Kommentare höchst erwünscht per E-Mail. HTML-Version © 2002 by Peter Schuster. Originaladresse dieser Seite im Netz: www.mondratte.de/genitiv.htm.